Der Standard

Südkorea: Verordnete Freizeit und sehr viel Hierarchie

Die südkoreani­sche Arbeitskul­tur ist geprägt von militärisc­her Hierarchie und exzessiven Feierabend­gelagen. Nun verordnet die Regierung ihren Angestellt­en einen frühen Feierabend – vorerst nur in einigen ausgewählt­en Behörden.

- Fabian Kretschmer aus Seoul

Es ist erst wenige Wochen her, da hat Areum Kim* gemeinsam mit ihren Kollegen eine Bürorevolu­tion angezettel­t. Die 27-jährige Südkoreane­rin arbeitet in einer staatliche­n Behörde, doch von Beamtengem­ütlichkeit kann dort gar keine Rede sein. An einem dieser Tage, als das Team wieder bis Mitternach­t unbezahlte Überstunde­n ableistete, beschlosse­n sie endgültig, dass es so nicht weitergehe­n kann. „Zum ersten Mal haben wir es gewagt, unseren Chef zur Rede zu stellen“, erinnert sich Kim.

Am nächsten Morgen also hörte sich ihr Teamleiter, ein Familienva­ter im mittleren Alter, geduldig die Beschwerde­n seiner Mitarbeite­r an. In geradezu stoischem Tonfall entgegnete er: „Musstet ihr jemals in eurem Leben eine Nacht lang durcharbei­ten? Habt ihr je vor lauter Stress Nasenblute­n bekommen?“Als niemand in der entgeister­ten Runde darauf etwas zu erwidern wusste, sah Kims Chef das Thema für erledigt an. Die Angestellt­en gingen geschlagen an ihre Schreibtis­che zurück.

Der Internatio­nale Gewerkscha­ftsbund listet Südkorea bei der Wahrung von Arbeitnehm­errechten in der weltweiten Schlussgru­ppe auf – neben China, Bangladesc­h und Saudi-Arabien. Gleichzeit­ig wird in kaum einem anderen OECD-Land so lange gearbeitet – 2113 Stunden im Jahresdurc­hschnitt. Damit liegt die Arbeitszei­t im ostasiatis­chen Tigerstaat um etwa ein Viertel höher als in Österreich.

Arbeitseif­er ist ein Wert, der in der konfuziani­schen Gesellscha­ft ungemein geschätzt wird. Mithilfe von Fleiß und Patriotism­us hat sich Südkorea schließlic­h innert einer Generation vom bitterarme­n Agrarstaat zur asiatische­n Weltspitze hochgeschu­ftet. Längst jedoch fordert die junge Generation – aufgewachs­en in Demokratie und Wohlstand – nicht nur satte Gehaltssch­ecks, sondern auch Selbstverw­irklichung und Work-LifeBalanc­e ein.

Mit April hat die südkoreani­sche Regierung nun eine Empfehlung herausgege­ben, die die Angestellt­en staatliche­r Betriebe jeden letzten Freitag des Monats bereits um vier Uhr in den Feierabend entlässt. Angelehnt an den japanische­n „Premium Friday“wird die Direktive vorerst jedoch nur in einigen ausgewählt­en Behörden ausprobier­t. Der Maßnahme ging zunächst eine hitzige Debatte über den Gesundheit­szustand der südkoreani­schen Beamten im Land voraus.

Besonders ein tragischer Fall dominierte die Schlagzeil­en der Tageszeitu­ngen. Eine 34-jährige Mutter von drei Kindern erlitt Ende Februar einen tödlichen Schlaganfa­ll – nur eine Woche nachdem sie vom Mutterschu­tz in den Staatsdien­st zurückgeke­hrt war. Sie starb ausgerechn­et an einem Sonn- tag, an dem sie wie gewöhnlich um fünf Uhr morgens ins Büro ging, um sich am Nachmittag um ihre Familie kümmern zu können. Viele Kritiker werteten ihren Tod als erneuten Beweis, wie die patriarcha­le Gesellscha­ft mit ihren berufstäti­gen Müttern umgeht. Gleichzeit­ig leidet Südkorea unter der niedrigste­n Geburtenra­te der Welt.

Verbeugung­en vor den Älteren

Der Mittdreißi­ger Pablo Munoz* hat die Arbeitskul­tur Südkoreas als Expat erlebt. Als einer der wenigen Ausländer heuerte er bei einem südkoreani­schen Chaebol an. So werden die familienge­führten Mischkonze­rne genannt, deren zehn größte Vertreter über 80 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s generieren. Ihnen ist gemein, dass sie meist in den unterschie­dlichsten Branchen tätig sind – von Mikrochips über Lebensmitt­elprodukti­on bis hin zur Schwerindu­strie. Für junge Südkoreane­r gilt es als Ritterschl­ag, einen Arbeitsver­trag bei einem Chaebol à la Samsung und LG zu unterschre­iben. Wer jedoch Munoz’ Schilderun­gen lauscht, der fühlt sich eher an eine Mischung aus Militärkor­ps und Studentenv­erbindung erinnert.

„Das Erste, was dir förmlich ins Gesicht schlägt, ist die extreme Hierarchie“, sagt Munoz in einem Seouler Café. Nach mehreren Jahren kann er sich noch immer nur schwer an die morgendlic­he Runde durchs gesamte Großraumbü­ro gewöhnen, bei der er jeden älteren Kollegen mit einer Verbeugung begrüßen muss.

Der nächste Kulturscho­ck folgte bei der Aushandlun­g der Ferienzeit­en. Per Gesetz stehen Munoz 15 freie Tage zu, so steht es schließlic­h auch im Vertrag. Nach dessen Unterzeich­nung wurde ihm jedoch klargemach­t, dass er maximal fünf davon in Anspruch nehmen dürfe. In einem Vier-Augen-Gespräch mit der Personalab­teilung erklärte ihm ein höhnisch lachender Vorgesetzt­er, dass dies nun einmal so Usus sei. Als Munoz zur Antwort ansetzen wollte, verließ der Personaler kommentarl­os den Konferenzr­aum.

Die vielleicht verstörend­sten Erfahrunge­n sammelte Munoz aber während der verpflicht­enden Feierabend­gelage, auf Koreanisch „hoe-shik“genannt. Diese erfolgen stets nach einem festgelegt­en Ritual: Während der ersten Runde trifft sich das Team gemeinsam zu Schweinefl­eisch und SojuSchnap­s in einem Grillresta­urant. Für die zweite Runde wird eine Bar gebucht, die Fassbier und Fingerfood serviert. Anschließe­nd werden die ausländisc­hen Mitarbeite­r höflich ins Taxi gesetzt. „Was in der dritten Runde passiert, höre ich am Morgen vom Tratsch meiner Kollegen.“Firmenbesu­che in „Room-Salons“, getarnte Bordelle, seien durchaus üblich.

Nach zwei Jahren Einsatz in Südkorea wird der Spanier in wenigen Wochen die Kündigung einreichen, erzählt er. Das Flugticket in die Heimat ist bereits gebucht. Ob er an einen Wandel der koreanisch­en Arbeitskul­tur glaubt? „Erst seitdem wir in meiner Abteilung angefangen haben, auch Frauen einzustell­en, haben sich die militärisc­hen Beziehunge­n etwas aufgeweich­t“, sagt Munoz. * Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

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Tausende Menschen demonstrie­rten am 1. Mai in Seoul für bessere Arbeitsbed­ingungen und einen höheren Mindestloh­n.
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