Europa neu erfinden
Reloading Europe: Die (jungen) Europäer müssen ihr Schicksal wieder in die eigene Hand nehmen und für ein Europa eintreten, das sich in einer globalisierten Welt friedlich behauptet.
Wie sehen wir Europa? Als ein Europa der Institutionen, der Nationen, der Staats- und Regierungschefs, der Kommission oder als ein Europa der Bürger?
Die Frage lässt sich schwer beantworten, aber auf die Alternativfrage: „Würden Sie ein Europa der Institutionen oder ein Europa der Bürger bevorzugen?“könnte die Antwort eindeutig ausfallen. Obwohl, was könnte man sich denn überhaupt unter einem Europa der Bürger vorstellen? Eine mögliche Antwort wurde in den letzten Monaten dort gegeben, wo sich der Bürgerwille seit der Französischen Revolution oder der 68er-Bewegung immer schon am konkretesten manifestiert: auf der Straße.
„Pulse of Europe“(eine nach einer Idee der Frankfurter Rechtsanwälte Daniel und Sabine Röder gegründete überparteiliche und unabhängige Bürgerinitiative mit dem Ziel, „den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar [zu] machen“, Anm.) bringt seit November 2016 Woche für Woche, Sonntag für Sonntag zigtausend Menschen in ganz Europa auf die Straße. Derzeitiger Stand: 106 Städte, 13 europäische Länder (darunter Frankreich und Polen), in manchen Städten versammeln sich am Sonntagnachmittag oft bis zu 5000 Teilnehmer.
Hier kommen Menschen zusammen, die sich dazu bekennen, europäisch zu denken, zu handeln und für ihre Zukunft zu planen. Das offene Mikrofon gehört denen, die gekommen sind, um sich europäisch zu deklarieren – bunt gemischt mit unterschiedlicher Herkunft, generationenübergreifend und mit verschiedenen Ansichten sowie sozioökonomischem Hintergrund. Daraus entstehen Dialoge und Ideen unter Menschen, die sonst vielleicht nie miteinander kommunizieren würden. Was sie vereint: der Wunsch, Europa zu würdigen, aber es auch voranzubringen.
Geschichten werden erzählt: von einem Engländer, der nach dem Brexit hier in Österreich lebt und nicht mehr weiß, wohin er gehört. Von einem Diplomaten, der jahrelang beobachtet hat, wie nationaler Eigensinn das Gemeinsame blockiert. Von einem jungen Österreicher, der nach einer Radwanderung durch Europa den ganzen Kontinent als Heimat sieht. Von einer jungen Frau, die sich für ihre Kinder den Schutz einer geeinten und weltweit agierenden EU wünscht.
Wer heute noch nicht 30 Jahre alt ist, erlebt das grenzenlose Europa, eine gemeinsame Währung, Freizügigkeit und die Chance, sich in einem internationalen Rahmen zu verwirklichen, als Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig erkennen junge Menschen immer mehr, dass dieses Europa zu einem Spielball ganz spezieller Interessen geworden ist, die weitgehend von einer mit eigener Vergangenheit beschäftigten Generation ausgehen, wie sich in der Brexit-Abstimmung, aber auch während diverser Wahlkämpfe in Europa gezeigt hat.
Die Welt ist vuka-vuka
Ihnen geht es jetzt daher darum, einen „Raum Europa“neu zu denken, ihn für sich zu gestalten und zu festigen – als bürgernahen, demokratischen Raum, der eine sichere Zukunft in einer Welt gewährleistet, die keine Beständigkeit bietet, sondern als vuka (volatil, unsicher, komplex und ambivalent) beschrieben wird. Herkömmliche politische Denkmuster sind für diese Vuka-Welt nicht mehr geeignet, da der Rückzug auf den überschaubaren Raum und die Rückschau auf früher funktionierende Instrumente in einer globalisierten Welt einfach nicht mehr gelingen.
Vernetzung, ständige Anpassung, punktuelle Aktion, Teilhabe, Eingreifen der Zivilgesellschaft, Eigeninitiativen wie #FreeInterrail – das sind die neuen Werkzeuge, die unsere Gesellschaft in Bewegung halten. Mit „Pulse of Europe“entsteht eine Bewegung, die diese Tools einsetzt, um europaweit positiv für eine Sache, nämlich die Erneuerung Europas aus der Tiefe der Zivilgesellschaft, zu werben und nicht Interessen gegeneinander auffahren zu lassen.
„Pulse of Europe“hat aufgrund seiner Sichtbarkeit, Unabhängigkeit von politischen Strömungen und der positiven, nicht gegen irgendetwas auftretenden Grundstimmung das Zeug dazu, einen gesamteuropäischen Pulsschlag in Gang zu setzen, der letztlich Emotionen freisetzt: Stolz auf die Errungenschaften der EU, Vertrauen in die Kraft der europäischen Völker, Selbstbewusstsein in der globalisierten Welt, Zusammenhalt, gegenseitiges Verständnis und Bereitschaft zur Hilfe.
Und diese Emotionen sind es, mit denen ein gemeinsamer Kraftakt zur Schaffung einer bürgernahen, demokratischen, sozialen und weltweit Verantwortung übernehmenden EU eine breite Unterstützung in allen Bevölkerungsschichten finden kann! Eine junge, europäische Generation wird dabei federführend sein.
SOLÈNE DENGLER ist Austrofranzösin, wuchs in Italien, Deutschland und Frankreich auf, studierte in England Umweltökonomik und arbeitet derzeit als Beraterin und Übersetzerin in Wien. NINI TSIKLAURI stammt aus Georgien, wuchs in Ungarn und Deutschland auf, studiert derzeit Politikwissenschaften in Wien und wird in den Niederlanden ihr Postgraduate absolvieren.