Brexit ist kein Länderspiel
May verkauft die Verhandlungen mit der EU als Kraftprobe – und riskiert einen Crash
Von allen als Schicksalswahlen titulierten Urnengängen in Europa – Niederlande, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und wohl auch Italien – löst die britische Unterhauswahl am 8. Juni am wenigsten Spannung aus. Der Sieg der Tories stand schon fest, als Premierministerin Theresa May die Wähler zu den Urnen rief. Und die Lokal- und Regionalwahlen der vergangenen Woche haben gezeigt, dass Mays Rechnung aufgehen wird. Die Partei gewann hunderte Sitze dazu und drang tief in LabourHochburgen ein.
Die Tories profitieren von der eklatanten Schwäche von Labour-Chef Jeremy Corbyn und den Mühen der EUfreundlichen Liberaldemokraten, die weitverbreiteten Zweifel am Brexit in Stimmen umzumünzen. Auch das Bemühen von Expremier Tony Blair um eine parteiübergreifende Pro-EU-Plattform kommt nicht vom Fleck. Denn May ist es gelungen, die Brexit-Verhandlungen in den Köpfen der Menschen von einer Übung in wirtschaftlicher Schadensbegrenzung zu einer nationalen Kraftprobe umzuwandeln, die irgendwo zwischen einem Länderspiel und einem Churchill-haften Kampf ums Überleben angesiedelt ist. „Wir gegen sie“ist die neue Devise des Brexit-Verfahrens, zumindest bis zum Wahltag. abei hat ihr unbeabsichtigt EUKommissionspräsident JeanClaude Juncker geholfen, als er offen über das frustrierende Abendessen mit May plauderte. Die Leaks darüber („Sie lebt in einer anderen Galaxie“) nutzte die Premierministerin, um die Patriotismuskeule zu schwingen, vor einer Einmischung Brüssels in die britischen Wahlen zu warnen. Dabei haben die EU-Spitzen nichts dagegen, wenn May ihre knappe Mehrheit im Unterhaus ausbaut und nicht mehr von den radikalen EU-Gegnern in den eigenen Reihen erpressbar ist. Das könnte zu einer pragmatischeren Haltung führen, wenn nach der Wahl die Gespräche ernsthaft beginnen.
Aber die Sorge wächst, dass May ihre eigene Rhetorik – „Brexit wird ein Erfolg“– tatsächlich glaubt und einen großen Wahlsieg als Mandat für eine harte Verhandlungsführung betrachtet. Doch sie kann noch so kräftig auf den Tisch hauen – ihr Blatt ist schwach und wird nicht besser. May suggeriert ihren Wählern, dass sie bis 2019 volle nationale Souveränität und
Dden Zugang zum Binnenmarkt erkämpfen kann. Aber die EU kann das nicht zulassen und hat viel weniger zu verlieren, wenn Großbritannien ohne Übereinkunft aus der Union herauspurzelt. Zur Enttäuschung der Briten stehen die EU-27 geschlossen hinter einer harten Linie, die Rosinenpicken und bilaterale Separatabkommen ausschließt. London und Brüssel befinden sich auf einem Crashkurs, der für die EU schmerzhaft und für Großbritannien katastrophal zu werden droht.
Die Herausforderung für die britischen Brexit-Skeptiker wird es sein, im Wahlkampf die Debatte vom Natio- nalstolz zu konkreten Sachthemen zu überführen. Dabei können auch Brüssel, Berlin und Paris helfen, indem sie auf Drohszenarien verzichten und mehr von den Chancen sprechen, die ein weitgehender Zugang zum Binnenmarkt beiden Seiten gibt – ohne dabei zu verschweigen, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhen muss. Statt Gibraltar sollten die Bedürfnisse der 300.000 britischen Expats in Spanien zum Thema werden. Das wäre schon vor dem Referendum 2016 sinnvoll gewesen. Aber die große Brexit-Debatte ist noch nicht vorbei – und muss auch nach den Unterhauswahlen weitergehen.