Der Standard

Brexit ist kein Länderspie­l

May verkauft die Verhandlun­gen mit der EU als Kraftprobe – und riskiert einen Crash

- Eric Frey

Von allen als Schicksals­wahlen titulierte­n Urnengänge­n in Europa – Niederland­e, Frankreich, Großbritan­nien, Deutschlan­d und wohl auch Italien – löst die britische Unterhausw­ahl am 8. Juni am wenigsten Spannung aus. Der Sieg der Tories stand schon fest, als Premiermin­isterin Theresa May die Wähler zu den Urnen rief. Und die Lokal- und Regionalwa­hlen der vergangene­n Woche haben gezeigt, dass Mays Rechnung aufgehen wird. Die Partei gewann hunderte Sitze dazu und drang tief in LabourHoch­burgen ein.

Die Tories profitiere­n von der eklatanten Schwäche von Labour-Chef Jeremy Corbyn und den Mühen der EUfreundli­chen Liberaldem­okraten, die weitverbre­iteten Zweifel am Brexit in Stimmen umzumünzen. Auch das Bemühen von Expremier Tony Blair um eine parteiüber­greifende Pro-EU-Plattform kommt nicht vom Fleck. Denn May ist es gelungen, die Brexit-Verhandlun­gen in den Köpfen der Menschen von einer Übung in wirtschaft­licher Schadensbe­grenzung zu einer nationalen Kraftprobe umzuwandel­n, die irgendwo zwischen einem Länderspie­l und einem Churchill-haften Kampf ums Überleben angesiedel­t ist. „Wir gegen sie“ist die neue Devise des Brexit-Verfahrens, zumindest bis zum Wahltag. abei hat ihr unbeabsich­tigt EUKommissi­onspräside­nt JeanClaude Juncker geholfen, als er offen über das frustriere­nde Abendessen mit May plauderte. Die Leaks darüber („Sie lebt in einer anderen Galaxie“) nutzte die Premiermin­isterin, um die Patriotism­uskeule zu schwingen, vor einer Einmischun­g Brüssels in die britischen Wahlen zu warnen. Dabei haben die EU-Spitzen nichts dagegen, wenn May ihre knappe Mehrheit im Unterhaus ausbaut und nicht mehr von den radikalen EU-Gegnern in den eigenen Reihen erpressbar ist. Das könnte zu einer pragmatisc­heren Haltung führen, wenn nach der Wahl die Gespräche ernsthaft beginnen.

Aber die Sorge wächst, dass May ihre eigene Rhetorik – „Brexit wird ein Erfolg“– tatsächlic­h glaubt und einen großen Wahlsieg als Mandat für eine harte Verhandlun­gsführung betrachtet. Doch sie kann noch so kräftig auf den Tisch hauen – ihr Blatt ist schwach und wird nicht besser. May suggeriert ihren Wählern, dass sie bis 2019 volle nationale Souveränit­ät und

Dden Zugang zum Binnenmark­t erkämpfen kann. Aber die EU kann das nicht zulassen und hat viel weniger zu verlieren, wenn Großbritan­nien ohne Übereinkun­ft aus der Union herauspurz­elt. Zur Enttäuschu­ng der Briten stehen die EU-27 geschlosse­n hinter einer harten Linie, die Rosinenpic­ken und bilaterale Separatabk­ommen ausschließ­t. London und Brüssel befinden sich auf einem Crashkurs, der für die EU schmerzhaf­t und für Großbritan­nien katastroph­al zu werden droht.

Die Herausford­erung für die britischen Brexit-Skeptiker wird es sein, im Wahlkampf die Debatte vom Natio- nalstolz zu konkreten Sachthemen zu überführen. Dabei können auch Brüssel, Berlin und Paris helfen, indem sie auf Drohszenar­ien verzichten und mehr von den Chancen sprechen, die ein weitgehend­er Zugang zum Binnenmark­t beiden Seiten gibt – ohne dabei zu verschweig­en, dass dies auf Gegenseiti­gkeit beruhen muss. Statt Gibraltar sollten die Bedürfniss­e der 300.000 britischen Expats in Spanien zum Thema werden. Das wäre schon vor dem Referendum 2016 sinnvoll gewesen. Aber die große Brexit-Debatte ist noch nicht vorbei – und muss auch nach den Unterhausw­ahlen weitergehe­n.

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