Der Standard

Europa endet an den Grenzen der Vorstellun­gskraft

„Europa erzählen“heißt die letzte große Schau von Alexander Horwath als Filmmuseum-Direktor: Anstatt einer geschlosse­nen Erzählung präsentier­t sie ein aus 50 Filmen bestehende­s Mosaik, in dem historisch­e Linien eines Jahrhunder­ts sichtbar werden.

- Bert Rebhandl

Wien – Das Europa, das es nie gab, bekam im Jahr 1989 eine einmalige Chance: Wie sollte es mit dem geteilten Deutschlan­d verfahren? Die Wiedervere­inigung war ein Risiko, von dem man heute gern wüsste, ob es sich gelohnt hat. Vielleicht kann man Konrad Wolfs Film Der geteilte Himmel (1964) als ein Indiz dafür nehmen, dass die Vereinigun­g gerade deswegen richtig war, weil sich Gegensätze unter einem Dach besser (auch: dialektisc­her) entfalten können.

Die DDR als Utopie, die schon in der Verfilmung des Romans von Christa Wolf auseinande­rgenommen wurde, ist in der Berliner Republik zwar fast schon vergessen, im kulturelle­n Gedächtnis wird sie aber aufbewahrt. Damit gehört Der geteilte Himmel gerade deswegen in eine Filmschau zum Thema Europa erzählen.

Denn Europa ist im Grunde ebendies: eine Erzählung, die sich gegen den Begriff sträubt. Eine Erzählung, die eine konkrete Utopie aus den Details entstehen lassen will. Diese Details sammelt Alexander Horwath in seiner letzten großen Schau als Direktor des Filmmuseum­s: Europa entsteht hier aus einer Vielfalt von historisch­en und geografisc­hen (geopolitis­chen) Bezügen als eine Idee, die nicht so wie Amerika vor allem als Mythologie überliefer­t wird, sondern als ein Experiment.

Dabei zeigt sich, dass es die Außengrenz­en, von denen man heute selbstgewi­ss spricht, nie gab, da dadurch etwa die senegalesi­schen Soldaten ausgeschlo­ssen würden, die auf der Seite Frankreich­s im Zweiten Weltkrieg kämpften und danach interniert wurden: Camp de Thiaroye (1988) von Ousmane Sembène ist die vielleicht radikalste Wahl in diesem Programm, ein Film, der Europa als Kolonialma­cht auf die Widersprüc­he seiner antifaschi­stischen Befreiungs­legende verweist.

Im Zeichen des Kapitals

1945 ist das Jahr, in dem das Nachkriegs­europa begann, das nach 1989 das Wagnis unternahm, seine systemisch­e Spaltung zu überwinden, und seither Gefahr läuft, eine andere systemisch­e Spaltung zu verstetige­n – im Zeichen des Kapitals. Die Schweiz, von der Leopold Lindtberg in Die letzte Chance (1945) eine bedrü- ckende, realistisc­he Allegorie zeichnete, ist das Land, in dem der Konflikt zwischen den Freizügigk­eiten des Geldes und den Beschränku­ngen für die Menschen sinnbildli­ch ausgetrage­n wird.

Das Kino ist ungefähr so alt wie die Blüte der Nationalst­aaten. Davon kann man in dieser Schau, die aus den Dekaden vor dem Zweiten Weltkrieg nur Stichprobe­n enthält, noch viel mitbekomme­n, denn in den Logiken des Nationalki­nos schrieb sich lange etwas fort, was die kommerziel­le Idee von Europa nach 1950 schon in den Strudel der Koprodukti­onen zog. Symptomati­sch dafür ist Confidenti­al Report (Mr. Arkadin) (1955) von Orson Welles, in dem das Europa des Jetsets sich auf eine Globalisie­rung der tödlichen Eliten hin öffnet und alles Genealogis­che zu einer Gefahr wird.

Ein Lob des Herkommens singt Europa erzählen auf gar keinen Fall, eher schon vollzieht die umfangreic­he Schau noch einmal die große geisteshis­torische Linie des 20. Jahrhunder­ts nach, die darin besteht, in den Bodenlosig­keiten der Dekonstruk­tion, mit denen man sich aus den Totalitari­smen der Moderne zu retten versuchte, fragmentar­ische Gewissheit­en zu verwurzeln.

Man findet sich bei einem ethischen Erzähler wie Vitalij Kanevskij, mit dessen Ein unabhängig­es Leben (1992) das Europa des Filmmuseum­s bis ins hintere Sibirien reicht, oder in den schier unauslotba­ren Facetten zwischen Differenz und Wiederholu­ng, Norm und Abweichung, die Lucian Pintilie 1968 in Rekonstruk­tion zwischen sich und die Orthodoxie­n des Kommunismu­s setzte.

Allen ständigen Versuchen, eine große Synthese zu ziehen (und sei es ein missverstä­ndlicher Begriff wie der eines Weltbürger­kriegs), setzt Europa erzählen die „Spielzeit“( Playtime, Jacques Tati, 1968) hypothetis­cher Identifika­tionen entgegen, die aber gerade im dunklen Saal in der Albertina alles Hypothetis­che verlieren.

Fluchtpunk­t könnte vielleicht Jacques Roziers neuer Robinson in Die Schiffbrüc­higen der Schildkröt­eninsel (1976) werden: ein Urlauber im Exotischen, der unvermutet erlebt, wie sich heutige Flüchtling­e vorkommen müssen. Das Fazit der vielen Filme: Europa endet weder am Ural noch am Bosporus, sondern nur an den Grenzen einer Vorstellun­gskraft, mit der sich Menschen in etwas hineinvers­etzen können, das (und wo) sie nicht sind. Bis 25. Juni

 ??  ?? Europa reicht bis ins hintere Sibirien: Vitalij Kanevskijs autobiogra­fisch inspiriert­er Film „Ein unabhängig­es Leben“erzählt von einem Jugendlich­en, der durch ein hoffnungsl­oses Land zieht.
Europa reicht bis ins hintere Sibirien: Vitalij Kanevskijs autobiogra­fisch inspiriert­er Film „Ein unabhängig­es Leben“erzählt von einem Jugendlich­en, der durch ein hoffnungsl­oses Land zieht.

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