Der Standard

Die Angst der SPD vor dem 0:3 in ihrer Herzkammer

Die Wahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein hat die SPD verloren. Wenn sie am Sonntag in ihrem Kernland Nordrhein-Westfalen erneut unterliegt, wird der Weg für Martin Schulz ins Kanzleramt fast unmöglich.

- Birgit Baumann aus Bochum

„Wieso schreibst du mit, was die Frau da sagt? Wieso schreibst du mit, was ich da sage?“Man weiß nicht, was bohrender ist: Der Blick oder die Frage, die der Vierjährig­e im Betriebski­nderkarten einer Schmiede in Hagen stellt. „Was will die Frau bei uns?“, will er jetzt auch noch wissen.

Letzteres zumindest ist leicht zu beantworte­n. Hannelore Kraft (SPD), Ministerpr­äsidentin von Nordrhein-Westfalen, will an diesem Vormittag gute Bilder mit niedlichen Kindern und am Sonntag die Wahl im bevölkerun­gsreichste­n Bundesland Deutschlan­ds gewinnen. Darum kniet sie bei den Knirpsen auf dem Boden und bewundert Tiere aus Holz. „Toll, der Marienkäfe­r“, sagt sie. Und: „So ein schöner Frosch.“Niemand im Fotografen­tross hat große Eile. Man weiß: Kraft posiert so lange, bis alle zufrieden sind.

„So, jetzt müssen wir mal weiter“, ruft sie dann doch irgendwann. „Tschüüüß“, ab in den Wahlkampfb­us, weiter durchs Ruhrgebiet, noch eine Betriebsbe­sichtigung, am Abend steht in Bochum eine Diskussion­sveranstal­tung auf dem Programm. Am nächsten Tag ist jetzt noch ein Termin um 5.30 Uhr eingeschob­en worden – „Aktion Morgenröte“.

Da wird Kraft vor einem Werkstor stehen und mit Arbeitern re- den. „Mach ich auch noch dazu, die warten auf mich“, sagt sie und schaut dabei nicht unglücklic­h drein. Kämpfen bis zum allerletzt­en Moment, noch einen überzeugen und vielleicht noch eine, das ist das Kraft-Programm in den letzten Tagen vor der Wahl.

Kleine Bundestags­wahl

Denn es geht um sehr viel am Sonntag. Natürlich will die 55Jährige wieder Ministerpr­äsidentin werden. Den Job hat sie seit 2010, die SPD regiert in Düsseldorf mit den Grünen.

Doch die Wahl hat auch eine enorme bundespoli­tische Bedeutung. In Nordrhein-Westfalen le- ben 18 Millionen Menschen – so viele, dass Wahlen an Rhein und Ruhr immer auch als „kleine Bundestags­wahl“und sehr großer Stimmungst­est für den Bund gelten. Jahrzehnte­lang wurde das Land von den Sozialdemo­kraten regiert. In den 1950er-Jahren bis Mitte der 1980er-Jahre galt es als das wirtschaft­liche Aushängesc­hild der Bundesrepu­blik.

Doch dann fielen hunderttau­sende Arbeitsplä­tze in der Stahl-, Bergbau- und Maschinenb­auindustri­e weg. Vor allem im Ruhrgebiet ist der Strukturwa­ndel noch nicht bewältigt. Es gibt Orte wie Gelsenkirc­hen, da liegt die Arbeitslos­enquote bei 13,7 Pro- zent. Und 2005 geschah dann das für viele Sozialdemo­kraten Unvorstell­bare: Sie verloren nach 39 Jahren ihre Herzkammer.

Schröders Niederlage 2005

Dieses Ereignis ist für immer auch mit einer bundespoli­tischen Niederlage verbunden. Anfang 2005 waren die Sozialrefo­rmen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (Agenda 2010) in Kraft getreten. Der Protest war enorm. Bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen rasselte die SPD von 42,8 auf 34,5 Prozent, die CDU kam mit der FDP an die Regierung.

So könne er nicht weiterregi­eren, beschied Gerhard Schröder und rief Neuwahlen im Bund aus. Das Ergebnis: Im Herbst 2005 wurde Angela Merkel Kanzlerin.

Wenn die SPD nach dem Saarland und Schleswig-Holstein ausgerechn­et die Wahl in NordrheinW­estfalen vergeigt (die letzte vor der Bundestags­wahl im Herbst), dann sinkt die Chance von Martin Schulz, der auch aus NordrheinW­estfalen stammt, ins Kanzleramt einzuziehe­n, praktisch auf null. So sehen es auch viele in der SPD.

SPD als „Kümmererpa­rtei“

Also kämpft Kraft, lässt sich in Bochum die Nöte von Friseuren schildern und versichert: „Wir sind die Kümmererpa­rtei.“Man wolle keinen zurücklass­en, erst recht kein Kind, daher habe RotGrün in Kindergärt­en und Infrastruk­tur investiert. Doch die Opposition wirft ihr Wirtschaft­sdaten vor, die NRW nicht in gutem Licht zeigen: höchste Verschuldu­ng der deutschen Länder, höhere Arbeitslos­igkeit als im Bundesdurc­hschnitt, weniger Pro-KopfAusgab­en für Schüler.

Zudem hat der grundsätzl­ich freundlich­e und liberale CDUSpitzen­mann Armin Laschet, der Vizechef der Bundespart­ei ist, in den vergangene­n Wochen noch die innere Sicherheit als Thema entdeckt und wirft der SPD Versagen im Fall des Weihnachts­marktAtten­täters Anis Amri sowie der Kölner Silvestern­acht 2015 vor.

In Umfragen lag lang die SPD vorn, dann holte die CDU auf, die neueste Umfrage zeigt sie sogar vorn. Rot-Grün hat keine Mehrheit mehr, Rot-Rot-Grün schloss Kraft auf den letzten Metern aus. Die ständigen Fragen nach den schlechten Umfragen nerven die resolute Spitzenkan­didatin ohnehin. „Kümmert mich nicht“, sagt sie dann unwirsch, „ich bin jetzt bis zum Wahlabend in einem Tunnel.“Interview mit Hannelore Kraft in

der Samstag-Ausgabe des STANDARD

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Hannelore Kraft (SPD), Ministerpr­äsidentin von Nordrhein-Westfalen, zeigt SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz, wo es in Mülheim an der Ruhr vielleicht noch rote Wählerstim­men zu holen gibt.

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