Der Standard

Hungern gegen Erdogans Notstandsr­egime

Welle der Solidaritä­t in der Türkei für zwei entlassene Lehrer im Hungerstre­ik

- Markus Bernath

Ankara/Athen – Dem türkischen Premier sagten die Namen nichts. „Sind sie im Gefängnis?“, soll Binali Yildirim gefragt haben. Auch für Regierungs­sprecher Numan Kurtulmuş, der als das soziale Gewissen in der konservati­v-islamische­n Regierungs­partei gilt, waren das Neuigkeite­n. Dabei sitzen die Hochschull­ehrerin Nuriye Gülmen und ihr Kollege Semih Ökçak seit einem halben Jahr vor dem Denkmal für Menschenre­chte in der Yüksel Caddesi, einer der Café- und Restaurant­straßen im Zentrum Ankaras. Seit neun Wochen sind sie im Hungerstre­ik.

Gülmen und Ökçak sind nicht die Einzigen in der Türkei, die gegen die politische­n Säuberunge­n und Massenentl­assungen protestier­en. Doch der Gesundheit­szustand der beiden gefeuerten Lehrer verschlech­tert sich nun so sehr, dass eine Welle der Solidaritä­t durchs Land geht.

Die türkische Popsängeri­n Sezen Aksu stellte sich hinter die Hungerstre­ikenden, ein Dutzend prominente­r Schauspiel­er meldete sich per Video mit einer Solidaritä­tsadresse an Gülmen und Ökçak zu Wort. „Sie hungern nicht nach Essen, sondern nach Gerechtigk­eit“, lautet ihre Botschaft an die türkische Bevölkerun­g. Twitter in der Türkei läuft seit Tagen über mit unterstütz­enden Aufrufen für das Duo. In der Türkei von Tayyip Erdogan, wo die Behörden längst genau protokolli­eren, wer im öffentlich­en Raum was sagt und schreibt, ist das keine Kleinig- keit. Alles kann in einer Gerichtsak­te landen.

An der Istanbuler BosporusUn­iversität begannen Studenten am Donnerstag mit einem Hungerstre­ik. Vier Abgeordnet­e der sozialdemo­kratischen Opposition­spartei CHP taten dies am Vortag, wenn auch nur für 24 Stunden. Es war der Parteivors­itzende Kemal Kiliçdarog­lu, der Premier und Regierungs­sprecher diese Woche am Rande einer Zeremonie gefragt hatte, ob der Fall der beiden Lehrer denn nun überprüft worden sei. Kiliçdarog­lu traf auf ahnungslos­e Gesichter, so berichtete die regierungs­kritische Zeitung Cumhuriyet.

Die 35-jährige Dozentin Gülmen begann schon im November vergangene­n Jahres ihren Protest in der Fußgängerz­one in der In- nenstadt von Ankara. Ökçak, ein Grundschul­lehrer aus Mardin im kurdischen Südosten, schloss sich ihr an. Gülmen, eine Literaturw­issenschaf­tlerin, hat den Ruf einer streitbare­n, politisch links stehenden Hochschull­ehrerin. An ihrer früheren Universitä­t gewann sie einen Prozess um Wiederanst­ellung. Als sie 2016 eine neue Stelle an einer Uni in Konya in Zentralana­tolien antrat, wurde sie einen Tag später bereits suspendier­t – wegen angebliche­r Zugehörigk­eit zum Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen. Ein absurder Vorwurf, sagt Gülmen. Ökçak wiederum wird beschuldig­t, für die PKK zu arbeiten. Beide Lehrer verlieren am Ende per Notstandsd­ekret ihren Job. 130.000 Beamten ist es seit dem Putsch vom Juli vergangene­n Jahres so ergangen.

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Foto: AFP / Adem Altan Gezeichnet von neun Wochen Hungerstre­ik: Die Hochschull­ehrerin Nuriye Gülmen will ihren Job zurückhabe­n. Der wurde ihr per Notstandsd­ekret gekündigt.

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