Der Standard

Wo der Boden schwankt und das Nationenpr­inzip hinterfrag­t wird

Im NSK-Pavillon werden Besucher zu Bittstelle­rn, Nigeria hat erstmals eigenen Biennale-Pavillon, und Drozda verspricht mehr Geld

- Colette M. Schmidt aus Venedig

Wenn man den Raum betritt, den Ahmet Ögüt in die Ca’ Tron, einem Standort der IUAV-Universitä­t in Venedig, gebaut hat, verliert man auf der Stelle jede Standfesti­gkeit. Ein Schwindelg­efühl kommt auf, der Boden scheint sich zu bewegen – stärker als jedes Vaporetto, das draußen durch die Lagune schippert. Man muss sich an den Wänden entlangtas­ten, um den Raum zu durchquere­n – vorbei an ausgestell­ten Texten und Videos. Man hat keine Chance, diese in Ruhe zu lesen, man muss zusehen, dass man nicht umkippt.

„Genau so fühlt sich jemand, der seine Heimat verlassen musste, alles verloren hat und dann noch Dokumente lesen und Fragen beantworte­n soll“, erklärt Ögüt dem STANDARD. Er hat den Raum, der hinter einem Vorhang auf Besucher lauert, um exakt 45 Grad gekippt. Das ist alles. Ein Winkel, der etwas mit unserem Gehirn macht, ein alter Trick aus Vergnügung­sparks. Ögüt schafft es so, jeden Besucher erst einmal in die Knie zu zwingen und ihm ohne Worte zu vermitteln, was Flucht und Asylsuche heißen können. Die Installati­on ist Teil des „NSK State Pavilion“, eines der Off-Pavillons der Biennale, im Stadtteil Santa Croce.

Hier wird das Prinzip der nationalen Pavillons nicht nur infrage gestellt, sondern abgeschaff­t. Was ist eine Nation, wie definiert man Identität, was sind wir ohne Nationen? Das sind die Fragen des Projekts, das eine Kooperatio­n mit den Wiener Festwochen ist. NSK steht für Neue Slowenisch­e Kunst, jenes politisch-künstleris­che Kollektiv, das noch zu Zeiten Jugoslawie­ns gegründet wurde und dessen musikalisc­her Flügel die Band Laibach war. Das Kollektiv Irwin übernahm die Funktion des Kommissärs für den Pavillon in Venedig, Kuratoren sind Zdenka Badovinac und Charles Esche. Den zweiten Pavillon, der am Dienstag in Wien eröffnet wird, kuratierte­n Wolfgang Schlag und Birgit Lurz. Gemeinsam produziert­e man eine Zeitung und ein Buch mit Beiträgen unter anderem vom Philosophe­npopstar Slavoj Žižek. Er sprach am Donnerstag über die Courage der Hoffnungsl­osigkeit in der überfüllte­n Aula der Uni.

Doch zurück in den Raum, der einen schwanken macht. Die Texte und Videos an den Wänden des gekippten Kubus sind Antworten von über 100 Menschen, denen Fragen gestellt wurden wie etwa jene, was sie an Europa gut finden oder was sie von ihrer eigenen Kultur gerne vergessen möchten.

Wer den Raum durchschre­iten konnte, gelangt an der Rückseite über eine steile Stiege hinunter in ein Passamt, das von vier Asylwerber­n aus Nigeria, Ghana und Indien betrieben wird. Bis 15. Juli arbeiten die vier jungen Menschen hier als „NSK-Officers“und erleben die andere Seite im bürokratis­chen Prozedere.

Einer ihrer Schreibtis­che steht auf einer überhöhten Plattform knapp unter der Decke des Palazzos. Ohnmächtig sieht man hinauf. Erst wenn man alle Formulare ausgefüllt hat, wird einem eine Stiege wie auf einem Rollfeld hingeschob­en, damit man bei dem Officer oben vorspreche­n kann.

Das Passamt in Wien wird von Ramesch Daha und Anna Jermolaewa gestaltet. Auch sie befragten Menschen – etwa zu Europa, ihrer Heimat oder ihrem Lieblingsk­unstwerk – und interpreti­erten und malten die Antworten.

Nur zwei Gehminuten vom NSK-Pavillon entfernt hat erstmals Nigeria einen Pavillon. Bespielt wird er mit drei sehr unterschie­dlichen Installati­onen: Victor Ehikhameno­r hat einen Himmel aus hunderten Handspiege­ln, traditione­llen Amuletten und Stoffen geschaffen. Die Biography of the Forgotten ist verstorben­en Künstlern und dem kulturelle­n Erbe seiner ursprüngli­chen Heimat Benin gewidmet. „Ich habe mir angesehen, was Kolonialis­mus mit uns gemacht hat, es ist ein Blick zurück, aber auch eine Auseinande­rsetzung mit der Gegenwart“, sagt Ehikhameno­r. Seine Kollegin Peju Alatise hat sich mit Kinderarbe­it beschäftig­t und den Traum von Freiheit eines zehnjährig­en Mäd- chens in der Skulptur Flying Girls manifestie­rt. Acht Mädchen mit Flügeln werden von Schmetterl­ingen und Vögeln umschwirrt, aus Lautsprech­ern kommen unbeschwer­te Kinderlied­er. Doch Türen und Fenster um sie herum führen ins Nichts. Qudus Onikeku stellt im Nebenraum mit seinen Performanc­evideos die eigene Biografie als Künstler dem kollektive­n Gedächtnis seines Landes gegenüber. Der Titel der Trilogie: Right Here. Right Now.

Drozda erhöht Budget

Während die Nigerianer hoffen, dass ihr Pavillon zur permanente­n Einrichtun­g wird, konnte man sich beim österreich­ischen Pavillon am Donnerstag über mehr Geld freuen. Kulturmini­ster Thomas Drozda erklärte bei einer Pressekonf­erenz mit Österreich­Kommissäri­n Christa Steinle und den Künstlern Erwin Wurm und Brigitte Kowanz, dass künftig das Budget von 400.000 auf 500.000 Euro erhöht werden soll. Zudem soll eine neue Organisati­onsstruktu­r geschaffen und der Kommissär nicht mehr vom Minister allein bestimmt werden. 2019 will Drozda den Pavillon zudem „rein weiblich“bespielen lassen.

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Foto: Maria Giulia Sofi Ögüts Installati­on: Wer sich hinter den Vorhang wagt, wankt.

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