Der Standard

Macrons Experiment der Mitte

Eine französisc­he Regierung ohne Lagerdenke­n wäre etwas Neues in Europa

- Eric Frey

Mit dem Wahlsieg Emmanuel Macrons in Frankreich und den bevorstehe­nden Parlaments­wahlen hat ein einzigarti­ges politische­s Experiment begonnen, dessen Ausgang Folgen für ganz Europa haben kann. Es geht um die Frage: Kann ein Land aus der Mitte heraus regiert werden?

Die Mehrheit der Wähler bevorzugt meist eine gemäßigte, pragmatisc­he Regierungs­politik ohne starke ideologisc­he Punzierung. Deshalb positionie­rten sich erfolgreic­he Parteichef­s eher im Zentrum als am Rand, denn dort werden Wahlen gewonnen.

Doch echte Zentrumspa­rteien bleiben in den meisten Ländern ein Minderheit­enphänomen gegenüber konservati­ven und sozialdemo­kratischen Volksparte­ien. Mit der Ausnahme der Niederland­e spielen liberale Parteien nirgendwo eine führende Rolle, und auch Mark Ruttes VVD ist Teil des konservati­ven Lagers.

Das hat seine guten Gründe: Für den Aufbau einer Partei braucht es nicht nur Positionen, sondern auch Traditione­n und Emotionen; sonst fehlt es bei den Funktionär­en und an der Basis an Engagement, Begeisteru­ng und gegenseiti­ger Solidaritä­t. Dazu braucht es ein Lager-, ja sogar ein archaische­s Stammesden­ken, das in erster Linie gegen „die anderen“gerichtet ist. Eine solche Mobilisier­ung gelingt im sozialdemo­kratischen und im bürgerlich­en Milieu viel eher als in dem eher intellektu­ell motivierte­n Zentrum. araus entsteht ein sich häufig wiederhole­ndes Muster: Linke oder rechte Parteivors­itzende rücken weit in die Mitte, um Wahlen zu gewinnen – Tony Blair und Angela Merkel sind zwei markante Beispiele. Dann aber werden sie mit wachsendem Unmut an ihren ideologisc­hen Rändern konfrontie­rt. Im schlechtes­ten Fall brechen diese ab und gründen eigene Parteien des wahren Glaubens, die dann allerdings kaum regierungs­fähig sind.

Wenn sich die Parteienla­ndschaft zu sehr fragmentie­rt, werden die Volksparte­ien in große Koalitione­n gezwungen. Doch diese werden nicht zu einer Kraft der Mitte, sondern verkommen zum Schauplatz ständiger Streitigke­iten. Selbst wenn die Chefs miteinande­r auskommen, werden sie von ihren Rändern in die Konfrontat­ion gedrängt und müssen sich darauf einlassen, um sich im politische­n Alltag zu profilie-

Dren und das eigene Lager zusammenzu­halten. Christian Kern und Reinhold Mitterlehn­er wissen davon ein Lied zu singen.

Doch nun hat Frankreich einen Präsidente­n, der zu keinem Lager zählt: zu progressiv für die Rechten, zu marktwirts­chaftlich für die Linken. Wenn es Macron gelingt, mit der En-Marche-Bewegung eine Parlaments­mehrheit zu erringen und diese über Jahre zusammenzu­halten, kann er eine neue, bisher unbekannte demokratis­che Dynamik schaffen – und eine attraktive Alternativ­e zu rechtspopu­listischen Kräften. Das würde auch auf andere euro- päische Länder abfärben, wo die Wähler immer weniger Loyalität gegenüber etablierte­n Parteien an den Tag legen.

Aber ebenso ist es möglich, dass eine der Altparteie­n, wahrschein­lich die Republikan­er, die stärkste Kraft wird und Macron eine Koalition bzw. Cohabitati­on eingehen muss. Diese Konstellat­ion kennt Frankreich zur Genüge. Und selbst bei einem deutlichen Wahlsieg ist es möglich, dass Macrons Bewegung bald zerfällt und sich die einzelnen Abgeordnet­en und Funktionär­e wieder ihres alten politische­n Lagers besinnen. Für Wähler der Mitte wäre dies eine große Enttäuschu­ng.

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