Der Standard

ZITAT DES TAGES

Die libysche Küstenwach­e ist mit einer deutschen NGO aneinander­geraten. der Standard war an Bord. Dabei ging es um die Rettung schiffbrüc­higer Migranten. Experten kritisiere­n deren Unterbring­ung in Libyen.

- Bianca Blei, Bartholomä­us von Laffert

„Ich habe in meinem Kopf alle Notfallsze­narien durchgespi­elt, ich dachte, jetzt versenken sie unser Boot.“

Ruben Lampart über seine Erfahrunge­n als Kapitän des Seenotrett­ungsschiff­s Sea-Watch 2 im Mittelmeer und Konflikte mit der libyschen Küstenwach­e

Mittelmeer/Wien – Oft entscheide­n Bruchteile von Sekunden über das Schicksal eines Menschen. So erlebte es Ruben Lampart diese Woche. Lampart ist Kapitän der Sea-Watch 2, des zivilen Seenotrett­ungsschiff­s der gleichnami­gen Berliner NGO, die seit 2015 Flüchtling­e aus dem Mittelmeer rettet und die Praktiken der EUAußengre­nzpolitik dokumentie­rt. „Ich habe in meinem Kopf alle Notfallsze­narien durchgespi­elt, ich dachte, jetzt versenken sie unser Boot.“Was war passiert?

Vorrang genommen

Die Koordinier­ungsstelle für Rettungsei­nsätze auf dem Mittelmeer (MRCC) in Rom gab am Mittwochmo­rgen dem Kapitän der Sea-Watch den Auftrag, ein in Seenot geratenes Holzboot mit hunderten Flüchtling­en zu retten. Die Freiwillig­en ließen ein Gummiboot ins Wasser, um die Menschen mit Rettungswe­sten auszustatt­en. Da befand sich die Sea-Watch 20 Meilen vor Libyens Küste: Außerhalb der libyschen Hoheitsgew­ässer. Das widerspric­ht dem Statement von Jub Kassem. Der Sprecher der von der EU finanziert­en libyschen Küstenwach­e hatte im Gespräch mit der Nachrichte­nagentur Reu- ters gesagt, dass das Schiff der NGO näher an der Küste war.

Es vergehen nur wenige Minuten, ehe auf der Backbordse­ite der Sea-Watch ein Boot der libyschen Küstenwach­e auftaucht, das rasch auf den Bug des Rettungssc­hiffs zufährt. Im Seerecht gilt, ähnlich wie bei rechts vor links im Straßenver­kehr: Steuerbord vor Backbord. Für Kapitän Lampart gibt es keine Möglichkei­t auszuweich­en. Am Ende sind es kaum 50 Zentimeter, die eine Kollision verhindern.

Während der Kapitän die Crew des Rettungsbo­otes zurückbeor­dert, übernehmen die Libyer. Es ist der Moment, in dem sich das Schicksal der Menschen auf dem Holzboot entscheide­t: Hunderte werden von der Küstenwach­e zurück nach Tripolis gebracht. „Es ist dasselbe Prozedere, das wir vor einem Jahr in der Ägäis beobachten konnten, nachdem die EU den Flüchtling­sdeal mit der Türkei geschlosse­n hatte“, sagt Sandra Hammamy, die Politikwis­senschafte­n an der Universitä­t in Gießen lehrt und in ihrer freien Zeit als Dolmetsche­rin bei Sea-Watch Rettungsei­nsätze fährt: „Damals konnten wir beobachten, wie Flüchtling­e auf See im Auftrag der EU in die Türkei zurückgesc­hleppt wurden.“

Ist die Rückführun­g von Menschen nach Libyen legal, sollten sie sich in internatio­nalen Gewässern befinden? Die Antwort ist im Völkerrech­t verankert und lautet: Nein, das Nichtzurüc­kweisungsp­rinzip der Genfer Flüchtling­skonventio­n untersagt, Menschen auf der Flucht über die Grenzen von Gebieten hinweg auszuweise­n, in denen ihr Leben bedroht sein könnte. Solange in Libyen Bürgerkrie­g herrscht und es sogar für Diplomaten zu gefährlich ist zu arbeiten, müssen die Asylanträg­e erst in der EU geprüft werden, bevor die Menschen zurückgesc­hickt werden dürfen.

Den Haag will ermitteln

Die Situation der Migranten in Libyen wird seit längerem von Menschenre­chtsorgani­sationen kritisiert. Nun will sich auch der Internatio­nale Strafgeric­htshof in Den Haag einschalte­n. Vor dem UN-Sicherheit­srat sprach die Chefankläg­erin Fatou Bensouda über ihre Ermittlung­en in Sachen „ernsthafte und weitverbre­itete Verbrechen, die mutmaßlich gegen Migranten verübt werden, die durch Libyen reisen“. Bensouda zeigte sich bestürzt über „glaubhafte Berichte, dass Libyen ein Marktplatz für Menschenha­ndel“geworden sei.

Die Österreich­erin Hanan Salah begrüßt die Initiative der Chefankläg­erin. Sie sammelt seit 2012 für die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch in Libyen Berichte über Menschenre­chtsverlet­zungen: „Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Verbrechen gegen Migranten in das Mandat des Gerichts fallen“, sagt Salah zum STANDARD. Fest steht für die 41-Jährige, dass die „Situation in den Migranteng­efängnisse­n katastroph­al“ist.

Erst vor kurzem besuchte Salah eine Einrichtun­g, in der 730 Männer in einem Raum gesperrt waren. „Manche waren bereits sechs Monate da und durften nicht duschen, ihre Kleidung nicht wechseln“, beschreibt sie die Situation. „Und das war nicht die schlimmste Unterbring­ung, die ich gesehen habe.“Rund 8000 Menschen sollen in solchen Haftzentre­n sein.

Ein Hilfspaket von mehr als 200 Millionen Euro hat die Europäisch­e Union der libyschen Einheitsre­gierung geschnürt, um Behördenst­rukturen in Libyen aufzubauen und Migranten zu schützen. Für Salah bleibt aber die Frage, wie die EU die Verwendung der Gelder überwachen will: „Nur die italienisc­he Botschaft operiert in Libyen. Der daraufhin nächste Vertreter eines EU-Staats sitzt in Tunesien. Mir ist nicht klar, wie so Kontrolle herrschen soll.“

In dem Bürgerkrie­gsland ist laut Salah außerdem die Gesundheit­sversorgun­g zusammenge­brochen. „Es gibt keine Impfungen für libysche Kleinkinde­r. Wie soll die Versorgung der Migranten sichergest­ellt werden?“pVideo auf derStandar­d.at/Flucht

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Die Überwachun­gskamera der Sea-Watch 2 filmte die Beinahekol­lision. Das Schiff der Küstenwach­e nahm anschließe­nd die Migranten an Bord und führte sie zurück nach Tripolis.
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