Der Standard

„Dieses falsche Schlusslic­ht-Bild nervt“

Nordrhein-Westfalen sei besser als sein Ruf, sagt Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD), die am Sonntag um den Wahlsieg zittert. Sie hofft, dass Martin Schulz Kanzler wird, um mehr Gerechtigk­eit zu schaffen.

- Birgit Baumann

INTERVIEW: STANDARD: Im Saarland und in Schleswig-Holstein hat die SPD die Wahlen verloren. Beunruhigt Sie das mit Blick auf Ihre Wahl in Nordrhein-Westfalen morgen? Kraft: Das Saarland hat ungefähr so viele Einwohner wie Köln, das kann man nicht vergleiche­n. Und in Schleswig-Holstein war sicher manches hausgemach­t. Die SPD in Nordrhein-Westfalen kann Wahlkampf, und wir haben einen klaren Plan für dieses Land.

STANDARD: Hat die SPD-Schlappe in Schleswig-Holstein Ihre letzte Wahlkampfw­oche verändert? Kraft: Das Ergebnis hat die Motivation gesteigert, mit noch mehr Bürgern ins Gespräch zu kommen, um für unsere Anliegen, etwa die gebührenfr­eie Kita (Kindergart­en Anm.) für 30 Stunden, zu werben. Das ist für Familien wichtiger als alle Steuersenk­ungen der vergangene­n zwanzig Jahre.

STANDARD: Nordrhein-Westfalen musste – Stichwort Bergbau – einen tiefgreife­nden Strukturwa­ndel durchmache­n. Nervt es Sie, dass Ihrem Land das „Schlusslic­htImage“anhaftet – mit maroden Brücken und Autobahnen? Kraft: Ja, dieses falsche Schlusslic­ht-Bild, das die Opposition konstruier­t, nervt. Denn es stimmt nicht. Natürlich müssen wir in einigen Bereichen noch aufholen, aber es wurde schon unglaublic­h viel geschafft. Über Jahrzehnte ha- ben wir die Infrastruk­tur im Osten Deutschlan­ds aufgebaut. Aber jetzt ist der Westen dran, wir haben jetzt endlich Geld für Nordrhein-Westfalen zur Verfügung.

STANDARD: Fallen Staus bald weg? Kraft: Solche Fantasieve­rsprechen kann nur die Opposition machen. Wenn wir viele Baustellen haben, haben wir auch Staus. In NRW fährt jedes fünfte deutsche Auto, und das auf einer Fläche, die halb so groß ist wie Bayern.

STANDARD: Ihr Land hat die höchste Verschuldu­ng und höhere Arbeitslos­igkeit als andere Länder. Kraft: In absoluten Zahlen hat NRW eine hohe Verschuldu­ng, auch weil wir das größte Bundes- land sind. Deutschlan­d hat absolut auch mehr Schulden als Griechenla­nd. Bei der Pro-Kopf-Verschuldu­ng liegt NRW im Mittelfeld der Bundesländ­er, und wir haben 2016 erstmals seit 1973 mit einem Plus abgeschlos­sen. Was die Arbeitslos­igkeit betrifft: Sie ist die niedrigste seit 24 Jahren.

STANDARD: Wie sehr belastete Sie die Silvestern­acht von Köln 2015 und der Fall Anis Amri? Amri war ja in Nordrhein-Westfalen untergebra­cht. Die Opposition nennt Ihren Innenminis­ter „Sicherheit­srisiko“. Kraft: Das waren beides schrecklic­he Ereignisse. Die Silvestern­acht war nicht nur in Köln katastroph­al, sondern auch in anderen Städten. Fest steht, dass es Fehler im Poli- zeieinsatz gab, wofür der damalige Polizeiprä­sident von Köln seinen Hut nehmen musste. Auch im Fall Amri sind Fehler gemacht worden. Einer war sicher, dass Amri trotz der Warnungen der NRW-Behörden als nicht mehr so gefährlich eingestuft wurde, weil er in Berlin in Drogenkrim­inalität geriet. Da die rechtliche­n Möglichkei­ten nicht ausreichte­n, um Amri in Abschiebeh­aft zu nehmen, ändert die Bundesregi­erung jetzt die gesetzlich­e Grundlage. Die Bürger erwarten zu Recht, dass der Staat ein lernendes System ist.

STANDARD: Erwarten Sie von Kanzlerkan­didat Schulz mehr Inhalte? Kraft: Er hat jetzt gerade ein wichtiges Thema gesetzt: Wir müssen wieder dazu kommen, dass Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er den gleichen Beitrag in die Krankenver­sicherung einzahlen, also zurück zur früheren Parität. Die CDU macht dagegen große Versprechu­ngen für Steuersenk­ungen. Die Bürger wissen aber einzuschät­zen, dass das Geld dann dem Land oder den Städten fehlt.

STANDARD: Ist es richtig, Schulz die Sozialrefo­rmen Gerhard Schröder korrigiert? Kraft: Das ist ein völlig normaler Vorgang. Bei einem so umfassende­n Reformkonz­ept muss man immer wieder nachsteuer­n.

dass von

STANDARD: Mehr Arbeitslos­e für Ältere ist aber ein zentraler Punkt. Kraft: Der entscheide­nde Punkt ist ein Recht auf Qualifizie­rung. Wenn jemand arbeitslos wird und eine Qualifizie­rungsmaßna­hme macht, soll er für diese Zeit länger Arbeitslos­engeld I erhalten. Der Fachkräfte­mangel wächst, da ist es sinnvoll, Arbeitssuc­hende weiterzubi­lden. Die SPD tritt an, um dieses Land gerechter zu machen.

STANDARD: Gelingt das in der großen Koalition nicht? Kraft: Wir haben es in Teilen geschafft, etwa mit der Rente mit 63 oder der Mütterrent­e, auch Auswüchse bei Leih- und Zeitarbeit wurden eingedämmt, aber wir müssen ja immer Kompromiss­e mit der CDU schließen. Deshalb kämpfen wir dafür, bei der Bundestags­wahl vorne zu liegen, dann können wir noch mehr Gerechtigk­eit schaffen. Wichtig ist uns, die Befristung von Arbeitsver­trägen ohne sachliche

Begründung zu beenden.

HANNELORE KRAFT (55) ist seit 2009 SPD-Vizechefin und seit 2010 Regierungs­chefin von NordrheinW­estfalen. Sie regiert mit den Grünen.

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Banger Blick in Richtung Wahlsonnta­g: Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD) will nach der Wahl ihr Amt behalten. Doch ausgemacht ist das nicht, die CDU holt kontinuier­lich auf.
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