Der Standard

Auf der Suche nach dem Großvater

In Spanien kämpfen die Hinterblie­benen der Opfer des Faschismus um die Öffnung der Massengräb­er im Land. Sie wollen ihre Angehörige­n angemessen beisetzen. Doch die spanischen Gerichte helfen nicht. Deshalb wenden sich die Familien etwa an Argentinie­n.

- Reiner Wandler aus Guadalajar­a

Chon Vargas Mendieta ist sichtlich angespannt. Mit traurigem Blick folgt sie jeder Bewegung des Archäologe­n, der vorsichtig mit einer Kelle Erdschicht für Erdschicht abträgt. „Das Massengrab eins“, sagt die 59-jährige Anwältin. Sie steht am Friedhof von Guadalajar­a, 60 Kilometer östlich von Madrid. Dort wurden wochenlang nach Ende des Spanischen Bürgerkrie­ges Anhänger der untergegan­genen demokratis­chen Ordnung von den siegreiche­n Faschisten unter General Francisco Franco standrecht­lich erschossen und verscharrt. „Am 15. November 1939 ermordeten sie meinen Großvater, Timoteo Mendieta“, sagt Vargas mit leiser Stimme. Im Massengrab eins sollen, so die Bücher, 24 Leichen liegen.

Großvater Mendieta war der Verantwort­liche des Gewerkscha­ftshauses der sozialisti­schen UGT in Sacedón, einem kleinen Dorf in den Bergen von Guadalajar­a. Er war weder Soldat der Republik noch Mitglied einer Miliz. „Nach Ende des Krieges wurde er abgeholt und später auf dem Friedhof erschossen“, sagt Vargas. Einschussl­öcher an der Friedhofsm­auer zeugen bis heute von dem Massaker, dem allein hier mehr als 800 Menschen zum Opfer fielen. In ganz Spanien waren es weit mehr als 100.000 Linke, Gewerkscha­fter und Demokraten, die so endeten.

„Drei Jahre nach dem Tod von Diktator Franco wurde meine Großmutter erstmals vorstellig. Sie wollte den Leichnam ihres Mannes mitnehmen, um ihn ordentlich zu bestatten“, erzählt Vargas. Es wurde ihr nicht erlaubt. Das Einzige, was die Familien er- reichten, war die Genehmigun­g, Gedenktafe­ln an den Massengräb­ern anzubringe­n. „Weil er die Demokratie und die Freiheit verteidigt hat“, steht auf der für Timoteo Mendieta.

Als die Großmutter 1988 starb, verlangte die Mutter von Chon Vargas, Ascensión Mendieta, weiterhin die Herausgabe der sterbliche­n Überreste. Auch sie hatte keinen Erfolg. „Die spanische Justiz nimmt sich dieser Fälle nicht an“, berichtet René Pacheco. „Für die Richter liegt kein Verbrechen vor“, fügt der Archäologe der Vereinigun­g zur Wiedererla­ngung der historisch­en Erinnerung (ARMH) hinzu, der die Ausgrabung leitet.

Kein Fall ohne Täter

Die juristisch­e Begründung für die Untätigkei­t geht wie folgt: 1977 – zu Zeiten des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie – wurde in Spanien eine Amnestie für alle politisch motivierte­n Verbrechen erlassen. Die Verantwort­lichen der Massaker wurden mit eingeschlo­ssen. „Laut Strafgeset­z liegt kein Fall vor, wenn es keinen Täter gibt“, sagt Pacheco.

Dass sie hier graben dürfen, hat die Familie von Timoteo Mendieta der argentinis­chen Richterin María Servini zu verdanken. Das dortige Gesetz erlaubt, ähnlich wie das spanische auch, weltweit Verbrechen gegen die Menschlich­keit zu verfolgen, wenn die Opfer in ihrem Heimatland nicht gehört werden.

Spanien ermittelte einst gegen die Verantwort­lichen der argentinis­chen und chilenisch­en Diktaturen und Argentinie­n jetzt in Sachen Franco-Verbrechen. Tochter Ascensión Mendieta (91) und Enkelin Vargas reisten vor drei Jahren nach Buenos Aires und er- wirkten ein internatio­nales Hilfsgesuc­h für die Exhumierun­g. Dem Gericht in Guadalajar­a blieb nichts anderes übrig, als die Grabungen zu genehmigen. Für die Kosten kommt nicht etwa der spanische Staat auf, sondern die ARMH mit Spenden einer norwegisch­en Gewerkscha­ft.

Es ist bereits das zweite Mal, dass Pacheco und sein Team auf dem Friedhof in Guadalajar­a graben. Januar 2016 hoben sie das Massengrab zwei aus. „Laut Büchern sollte Timoteo Mendieta dort liegen. Doch die DNA-Analyse zeigte, dass Mendieta nicht unter den 22 Leichen war. In der gleichen Nacht 1939 wurden die letzten beiden Leichname ins Massengrab eins geworfen und acht weitere Leichen in vier kleinen Gräbern beigesetzt. Alle diese Grabstätte­n werden in den kommenden Wochen geöffnet. „Es war einer der schwersten Momente in meinem Leben, als mir mitgeteilt wurde, dass mein Großvater nicht unter den Exhumierte­n war“, erinnert sich Vargas mit Tränen in den Augen. Sie hofft, dass dieses Mal das Drama ein Ende findet und ihre Mutter endlich den Großvater ordentlich beisetzen kann.

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Chon Vargas Mednienta lässt den Archäologe­n René Pacheco nicht aus den Augen, während er die Erdschicht im Massengrab eins in Guadalajar­a vorsichtig abträgt.

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