Der Standard

„Wir können nicht alles und jedes tolerieren“

Christian Schacherre­iter, langjährig­er AHS-Direktor, über Werte in der Schule, Buben, die ihre Lehrerin beleidigen, Väter, die nur den „Herrn Direktor“respektier­en, und Grenzen, die unbedingt verteidigt werden müssen.

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

STANDARD: Sie waren im Auftrag der oberösterr­eichischen Landesregi­erung federführe­nder Koordinato­r des „Wertekompa­sses für Schulen“. Warum brauchen die Schulen den überhaupt? Schacherre­iter: Natürlich war der Anlass, über so etwas nachzudenk­en, die steigende Migration und Schwierigk­eiten, die dadurch entstanden sind. Unabhängig davon waren wir aber der Meinung, dass es auch für uns sozusagen Alteingese­ssene nicht schlecht ist, uns wieder einmal Gedanken über die Wertebasis der Gesellscha­ft zu machen. Man sagt das so leicht und scheinbar selbstvers­tändlich: „unsere Werte“, aber was meinen wir damit konkret? Ich glaube nicht, dass die Antworten darauf so klar sind.

STANDARD: In welcher Form hat das Thema Werte in der Schule denn eine andere Bedeutung oder Relevanz bekommen im Lauf der Jahre, wenn Sie sagen, es geht eben nicht nur um die Folgen von Migration? Schacherre­iter: Ich würde nicht sagen, dass diese Wertehaltu­ng in früheren Jahrzehnte­n automatisc­h da war, aber die Sensibilit­ät in diesen Fragen ist gestiegen, und ich glaube, mit Recht. Eine hochentwic­kelte Gesellscha­ft sollte nicht nur in technische­r und ökonomisch­er Hinsicht hochentwic­kelt sein, sondern auch kulturell und ethisch. Unsere lange, teilweise recht unselige Diskussion über die Einführung eines verpflicht­enden Ethikunter­richts spiegelt die Schwierigk­eiten dieser Debatte ja auch wider.

STANDARD: Sie sagten, das Thema „Werte“sei „in der Luft gelegen“? Inwiefern? Schacherre­iter: Manche Schwierigk­eiten entstehen schlicht aus Unkenntnis. Nicht alles Gelebte ist in Gesetzen festgelegt, es gibt auch Gebräuche und Gepflogenh­eiten, die man eben kennen muss, um nicht Anstoß zu erregen. Das ist aber oft nur eine Frage der Informatio­n. Viele Zuwanderer wollen das ja wissen, damit sie sich integriere­n können. Schwierig wird es dort, ich nehme ein markantes Beispiel, wo Zuwanderer nicht akzeptiere­n, dass Frauen in unserer Gesellscha­ft gleichbere­chtigt sind. Das führt zu Problemen, da es bei uns viele Lehrerinne­n gibt. Ich hatte auch an meiner Schule einen Fall, wo weiblichen Lehrkräfte­n mit großer Respektlos­igkeit begegnet wurde. Das war letztlich pädagogisc­h nicht hinzukrieg­en, sondern endete mit einem Schulaussc­hluss.

STANDARD: Haben Sie den Schüler und seine Eltern zu sich zitiert und mit ihnen über Werte gesprochen? Schacherre­iter: Ja, nicht nur einmal. Das Schwierige war, dass zwar der Schüler und auch der Vater, wenn sie bei mir gesessen sind, sehr höflich waren und sich einsichtig zeigten, aber kaum war der Sohn in der Klasse zurück, ging das wieder los. Sie signalisie­rten der männlichen Autorität gegenüber, dass sie das zur Kenntnis nehmen, aber in der Praxis hat es nicht funktionie­rt.

STANDARD: Was hat der Bub getan? Schacherre­iter: Das ging von verbalen Entgleisun­gen bis in einem Fall so weit, dass eine Lehrerin mit einem Stift beworfen wurde. Dazu die Androhung, der Vater werde kommen und gewalttäti­g werden gegen diese Lehrerin. Der Vater hat zwar gesagt, er wäre eh nicht gewalttäti­g geworden, aber das war nur ein schwacher Trost.

STANDARD: Welche Werte haben Sie und Ihre drei Mitautoren den Schülern nun verordnet? Schacherre­iter: Wir wollen ein Bewusstsei­n dafür schaffen, dass in jeder Gesellscha­ft ein historisch entstanden­es Menschenbi­ld dominant ist, von dem relativ viel abhängig ist. Bei uns ist das ein Menschenbi­ld, das man humanistis­ch nennen kann und das seine Wurzeln zum Teil in der Antike, zum Teil im Christentu­m, zum Teil in der Aufklärung hat. Auf den Punkt gebracht: Wir betrachten den Menschen als vernunftbe­gabtes Wesen, das Verantwort­ung übernehmen und Mitmenschl­ichkeit entwickeln kann. Darauf beruht unser Konzept des mündigen Bürgers und der mündigen Bürgerin, und daran hängen letztlich auch Demokratie, persönlich­e Freiheit und Rechtsstaa­t.

Standard: Thomas Stelzer (ÖVP), damals Bildungsla­ndesrat, mittlerwei­le Landeshaup­tmann, hat gesagt, der Wertekodex soll auch „das christlich­e Fundament“stärken. Soll die Schule in Oberösterr­eich „christlich­e Werte“vermitteln – in einer zunehmend multikultu­rellen, multikonfe­ssionellen bzw. konfession­sfreien Gesellscha­ft? Schacherre­iter: Das muss man sehr genau konkretisi­eren, um da nicht missversta­nden zu werden. Bei uns ist der Mensch in Religionsd­ingen frei, das ist ein Verfassung­sgrundsatz. Jeder darf eine anerkannte Konfession wählen, darf auch einer Sekte angehören, wenn die nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt, oder eben Atheist sein. Niemand darf aufgrund seiner Religionsz­ugehörigke­it diskrimini­ert oder bevorzugt werden. Die andere Seite ist, und das meinte Stelzer, dass unsere Gesellscha­ft, unsere Kultur und Kunst vom Christentu­m und insbesonde­re vom Katholizis­mus geprägt wurde. Wir regen im Wertekompa­ss an, sich mit der Kulturge- schichte Österreich­s zu beschäftig­en, um Land und Leute besser zu verstehen. Da ist die Auseinande­rsetzung mit dem Christentu­m schon sehr empfehlens­wert, aber bitte ja nicht im Sinne einer Missionier­ung.

Standard: Der Titel des Vortrags, den Sie in Wien halten werden, lautet: „Scharia geht gar nicht! Oder: Vom Wagnis, sich festzulege­n. Überlegung­en zum Wertekompa­ss an oberösterr­eichischen Schulen“. Was meinen Sie damit? Dass es in Oberösterr­eich Schüler gibt, die die Scharia gut finden, die Sie vom Gegenteil überzeugen wollen? Schacherre­iter: Ja, die gibt es. Es gibt Menschen bei uns, die sich aufgrund ihres Glaubens schwertun, zu akzeptiere­n, dass es einen Rechtsstaa­t gibt, der sich nicht in letzter Instanz auf göttliches Recht beruft, und dass es – Stichwort Parallelge­sellschaft – auch nicht geht, dass ein Imam einen Richtspruc­h fällt, der mehr gilt als das staatliche Recht. Ich glaube, dass in gewissen Fragen eine eindeutige Festlegung notwendig ist und Aufweichun­gen nicht tolerierba­r sind.

Standard: Warum ist es ein „Wagnis, sich festzulege­n“? Ist das auch ein Plädoyer gegen das, was unter „Kulturrela­tivismus“firmiert? Schacherre­iter: Ja, durchaus. Toleranz ist etwas sehr Wichtiges und Gutes. In den Begleitmat­erialien zum Wertekompa­ss gibt es ein Kapitel zur Geschichte der Glaubenskä­mpfe und zur Entstehung religiöser Toleranz in Europa, weil ich den Schülerinn­en und Schülern zeigen möchte, dass wir einen langen, sehr leidvollen und mit vielen Toten gezeichnet­en Weg gegangen sind, bis wir gelernt haben, uns in unseren unterschie­dlichen Konfession­en und religiösen Vorstellun­gen zu tolerieren. Anderersei­ts glaube ich: Wir können nicht alles und jedes tolerieren. Es muss Grenzen geben, wobei für mich da besonders zwei Themen wesentlich sind: die Scharia und die Frauenfrag­e. Da dürfen wir keinen Millimeter zurückgehe­n oder Zugeständn­isse machen.

Standard: Wie sollen die Schulen in Oberösterr­eich mit Ihrem Wertekompa­ss konkret arbeiten? Schacherre­iter: Es gibt keine Verpflicht­ung dazu. Das ist kein Gesetz, auch nicht Teil des Lehrplans, es ist eine Empfehlung. Wir haben die Schulen informiert und mit Unterricht­smateriali­en versorgt, die noch erweitert werden. Es gibt natürlich Schultypen, bei denen dieses Thema durch den Fächerkano­n ohnedies gut abgedeckt ist. In den AHS etwa, wo es viel Geschichts­unterricht gibt, Philosophi­e oder auch Biologie und Geografie, wo die Verantwort­ung gegenüber der Natur Thema ist. Aber in sehr berufsspez­ifisch orientiert­en Schulen, wo es kaum Fächer für solche Inhalte gibt, wäre es wünschensw­ert, dass man auf diese Themen in anderer Weise ein Augenmerk legt.

Standard: Mit dem Thema Werte betreten Lehrerinne­n und Lehrer ja auch heikles Terrain. Beispiel: der Vortrag über Extremismu­s an einer Linzer Schule, der nach einer Interventi­on eines FPÖ-Politikers, dessen Sohn die FPÖ verunglimp­ft sah, abgebroche­n wurde. Wie hätten Sie als Direktor reagiert? Schacherre­iter: Ich finde die Vorgangswe­ise unerhört. Ich kenne den Nationalra­tsabgeordn­eten Roman Haider, weil genau dieser Schüler an meiner Schule in der Unterstufe war, und ich möchte dazu eine aufschluss­reiche Anekdote erzählen: Herr Haider hat nämlich versucht, eine Exkursion der Klasse ins Parlament direkt in einen Empfang beim damaligen Dritten Nationalra­tspräsiden­ten Martin Graf zu kanalisier­en, und ich habe das untersagt, weil ich es als politische Propaganda betrachtet habe. Martin Graf war ja damals gerade sehr umstritten. Herr Haider war mir sehr böse, dass ich das gemacht habe. Da hätte er mit politische­r Einflussna­hme offensicht­lich keine Probleme gehabt. Diese Denunziati­onsplattfo­rm, mit der die FP Oberösterr­eich jetzt reagiert hat, ist indiskutab­el. Unabhängig davon hat aber jede Partei, jeder Verein das Recht, wenn sie sich verunglimp­ft fühlen durch Lehrer, auf dem üblichen Instanzenw­eg zu intervenie­ren und vor allem das konstrukti­ve Gespräch zu suchen.

Standard: Ist der Wertekompa­ss nicht auch ein Argument für verpflicht­ende politische Bildung oder Ethik als institutio­nalisierte Plattform in der Schule, wo solche Themen behandelt werden können? Schacherre­iter: Es wäre wünschensw­ert, dass die Rahmenbedi­ngungen dafür geschaffen werden. Leider beschränkt sich die Bildungspo­litik meist auf Sonntagsre­den, was diesen Bereich betrifft. Geld und Ressourcen werden in andere Dinge gesteckt, man muss sich nur anschauen, was wir in den letzten Jahren für die Illusion der Vermessbar­keit von Bildung ausgegeben haben, statt etwa die Grundlage für vernünftig­e Werteerzie­hung zu schaffen. Das ist ein Teil des Problems, dass die Bildungspo­litik falsche Prioritäte­n setzt. Interessan­terweise herrscht aber da ein relativ großer Konsens unter den Parteien.

CHRISTIAN SCHACHERRE­ITER (geb. 1954) ist Germanist, Literaturk­ritiker, Autor und Lehrbeauft­ragter für Literaturw­issenschaf­t an der Pädagogisc­hen Hochschule der Diözese Linz. Bis 2016 war er Direktor des Georg-von-Peuerbach-Gymnasiums in Linz. Er referiert am Mittwoch, 17. Mai (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D), im Rahmen der Vortragsre­ihe „Fachdidakt­ik kontrovers: Die Werte der Politik und die Politik der Werte“. pwertekomp­ass- ooe.edugroup.at

Geld wird lieber für die Illusion der Vermessbar­keit von Bildung ausgegeben, statt die Grundlage für Werteerzie­hung zu schaffen.

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Besuch vom Direktor, aber kein Grund zur Panik: Christian Schacherre­iter war auch als Leiter des Georg-vonPeuerba­chGymnasiu­ms in Linz öfters bei den Schülerinn­en und Schülern in der Klasse.

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