Monument gegen das Modische
Das Schweizer Müstairtal wirkt wie ein Reservat für ruhigere Zeiten. Hier wird in uralten Gemäuern gegessen, gewohnt, gewebt und rätoromanisch geplaudert.
Zu den Klischees über das Engadin gehören Grandhotels, Partys und Privatflieger. Doch es geht auch anders. Schon im Unterengadin, den Inn abwärts Richtung Landeck, wird’s gemächlicher, weniger Chalets, mehr Natur. Zweigt man in Zernez ab und fährt über den Ofenpass ins Müstairtal im östlichsten Winkel der Schweiz, dann kommt es einem vor, als mache man eine Reise zurück in eine ruhigere Zeit, vor dem „gran turismo“.
Ruhe ist auch der erste Eindruck vom Ort Müstair, und er bestätigt sich im Hotel Chalavaina, das am Hauptplatz steht wie ein Monument gegen modischen Schnickschnack. Dicke Mauern, Granitplatten, Holzbalken und offenbar viel Geschichte, wie Jon Fasser, der Hoteldirektor, bestätigt. 700 Jahre sei der Bau alt. In der guten Stube, in der er das Essen serviert, wurde die längste Zeit bei offenem Feuer gekocht und geselcht – die pechschwarzen Wände, für die der Raum bekannt ist, zeugen davon. WLAN, wird einem gesagt, gibt es hier nicht, das passt zum Bild. Es kommt einem vor, als ob die innere Uhr auf einmal langsamer zu ticken beginnt. Gibt es tatsächlich so etwas wie Slow Life?
Es gibt hier jedenfalls eine „Unesco zum Quadrat“, wie es Lucia Romantscha, zuständig für die Ferienregion Engadin Val Müstair, ausdrückt, und dieses Doppelprädikat mag einiges erklären. Da ist zum einen der Status Weltkulturerbe, den die UN-Behörde dem Kloster Sankt Johann verliehen hat. Im regionalen Rätoromanischen heißt es Son Jon und hat in dieser Sprache auch dem Tal seinen Namen gegeben. Am Rand des Ortes steht es, ein trutziger Bau, der früher Festung ebenso wie Mönchsklause war. Seine Geschichte beginnt im ach- ten Jahrhundert, ein Rundgang führt vor Augen, wie sich Bauweisen, Kunst, Einrichtungen und Geräte entwickelt haben – darunter große zusammenhängende karolingische und romanische Wandmalereien, Skulpturen, Zellen, eine Küche, ein ganzer Speisesaal, intakte mittelalterliche Beheizungsanlagen und eines der sehr seltenen „Regale“, eine kompakte, tragbare Orgel mit Blasebalg. Seit langem ist Son Jon ein Nonnenkloster, und seit einiger Zeit bietet es Ferienaufenthalte an, wie sie ins Ambiente und ins Tal passen: zum Fasten und Entspannen.
Zum anderen hat die Unesco das Tal und die umliegenden Berge zum Biosphärenreservat erklärt, gemeinsam mit dem benachbarten Nationalpark und der Engadiner Gemeinde Scuol. Fast 200 km2 sind geschützt. In der Biosphäre soll die Naturlandschaft mit einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung einhergehen.
Nun kann „nachhaltig“ja alles Mögliche bedeuten, Achtzylinder heften sich das Etikett schon an, wenn auch nur das Handschuhfach wiederverwertet wird. Hier meint es, wie Frau Romantscha sagt, eine sanfte Alternative zum Turbotourismus.
Skeptische Bewohner
Da scheint die Klimaerwärmung nachzuhelfen. Denn das Müstairtal, rund 1300 Meter hoch gelegen, hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend warme Winter erlebt. Es gibt zwar Pläne, mit Seilbahnen die Skiurlauber in höhere Regionen zu locken. Aber viele Bewohner sind skeptisch, was die Erfolgsaussichten und vor allem die Auswirkungen auf den Biosphärenstatus anbelangt. Die Seilbahnpläne liegen also zurzeit auf Eis, sozusagen.
Es ist Frühling, und es zeigt sich bereits, was ein Sommerurlaub zu bieten hat. Egal, wo man von der Straße abzweigt, man ist schnell auf einem der zahllosen Wanderwege, in Wäldern, auf Wiesen, in einer Bilderbuchlandschaft, in der man schon genauer hinschauen muss, um zu sehen, dass man im 21. Jahrhundert ist und nicht im Heidiland. Zudem finden sich in jedem der Orte im Tal Ziele, die anzusteuern sich lohnt, etwa die Handweberei Tessanda in Santa Maria.
18 Webstühle stehen hier auf zwei Stockwerken an der Hauptstraße, manche mehr als 100 Jahre alt. Ein rundes Dutzend Lehrlinge, hauptsächlich weibliche, arbeitet an den komplizierten hölzernen Geräten. Die Erzeugnisse – Stoffunikate in wunderbaren Farben, Servietten, Taschen oder Plaids – kann man vor Ort kaufen.
Zu besuchen gibt es noch weitere Betriebe, die für biosphärengerechte Beschäftigung sorgen, die Slow-Food-Bäckerei MeierBeck etwa oder die Antica Distilleria Beretta mit ihrer beeindruckenden Auswahl an Schnäpsen und einem Single Malt Alpine Whisky Val Müstair 39°.
Fünfmal Rätoromanisch
Bleibt noch Zeit für eine kleine Einführung ins Rätoromanische durch Herrn Roman Andri, einen pensionierten Spitalsdirektor und begeisterten Sprachhistoriker. Die regionale Sprache, sagt er, von knapp einem Prozent der Schweizer gesprochen, bestehe in Wirklichkeit aus fünf Varianten, und jede der Sprachgruppen achte auf Selbstständigkeit. Also steht zwar auf den Banknoten neben den Bezeichnungen in den anderen drei Sprachen auch Banca Naziunala Svizra, doch Wörter wie diese, als Kompromiss erarbeitet, setzen sich in den eigensinnigen Tälern nicht durch, auch nicht im Val Müstair. Dort ist man in den Schulbüchern wieder zum eigenen, von gerade 1500 Menschen gesprochenen Vallader-Romanischen zurückgekehrt.
„Ja, wir sind vielleicht ein eigensinniges Volk“, sagt Jon Fasser. Sein Hotel zum Beispiel habe auch sehr auf Tradition beharrt. Dass man bei ihm nicht mit Kreditkarte zahlen konnte, veranlasste eine amerikanische Reisejournalistin zu einem so ungläubigen wie anerkennenden Artikel (die rußgeschwärzte Stube hatte es ihr auch angetan). „Daraufhin sind zahllose Touristen aus Amerika gekommen“, sagt Fasser.
Inzwischen nimmt er Kreditkarten. Und es gibt sogar WLAN. Wer das wie der Autor erst am letzten Abend herausfindet, darf sich wirklich glücklich schätzen. pwww. val-muestair.ch Die Reise erfolgte auf Einladung von Schweiz Tourismus (www.myswitzerland.com).