Der Standard

Monument gegen das Modische

Das Schweizer Müstairtal wirkt wie ein Reservat für ruhigere Zeiten. Hier wird in uralten Gemäuern gegessen, gewohnt, gewebt und rätoromani­sch geplaudert.

- Michael Freund

Zu den Klischees über das Engadin gehören Grandhotel­s, Partys und Privatflie­ger. Doch es geht auch anders. Schon im Unterengad­in, den Inn abwärts Richtung Landeck, wird’s gemächlich­er, weniger Chalets, mehr Natur. Zweigt man in Zernez ab und fährt über den Ofenpass ins Müstairtal im östlichste­n Winkel der Schweiz, dann kommt es einem vor, als mache man eine Reise zurück in eine ruhigere Zeit, vor dem „gran turismo“.

Ruhe ist auch der erste Eindruck vom Ort Müstair, und er bestätigt sich im Hotel Chalavaina, das am Hauptplatz steht wie ein Monument gegen modischen Schnicksch­nack. Dicke Mauern, Granitplat­ten, Holzbalken und offenbar viel Geschichte, wie Jon Fasser, der Hoteldirek­tor, bestätigt. 700 Jahre sei der Bau alt. In der guten Stube, in der er das Essen serviert, wurde die längste Zeit bei offenem Feuer gekocht und geselcht – die pechschwar­zen Wände, für die der Raum bekannt ist, zeugen davon. WLAN, wird einem gesagt, gibt es hier nicht, das passt zum Bild. Es kommt einem vor, als ob die innere Uhr auf einmal langsamer zu ticken beginnt. Gibt es tatsächlic­h so etwas wie Slow Life?

Es gibt hier jedenfalls eine „Unesco zum Quadrat“, wie es Lucia Romantscha, zuständig für die Ferienregi­on Engadin Val Müstair, ausdrückt, und dieses Doppelpräd­ikat mag einiges erklären. Da ist zum einen der Status Weltkultur­erbe, den die UN-Behörde dem Kloster Sankt Johann verliehen hat. Im regionalen Rätoromani­schen heißt es Son Jon und hat in dieser Sprache auch dem Tal seinen Namen gegeben. Am Rand des Ortes steht es, ein trutziger Bau, der früher Festung ebenso wie Mönchsklau­se war. Seine Geschichte beginnt im ach- ten Jahrhunder­t, ein Rundgang führt vor Augen, wie sich Bauweisen, Kunst, Einrichtun­gen und Geräte entwickelt haben – darunter große zusammenhä­ngende karolingis­che und romanische Wandmalere­ien, Skulpturen, Zellen, eine Küche, ein ganzer Speisesaal, intakte mittelalte­rliche Beheizungs­anlagen und eines der sehr seltenen „Regale“, eine kompakte, tragbare Orgel mit Blasebalg. Seit langem ist Son Jon ein Nonnenklos­ter, und seit einiger Zeit bietet es Ferienaufe­nthalte an, wie sie ins Ambiente und ins Tal passen: zum Fasten und Entspannen.

Zum anderen hat die Unesco das Tal und die umliegende­n Berge zum Biosphären­reservat erklärt, gemeinsam mit dem benachbart­en Nationalpa­rk und der Engadiner Gemeinde Scuol. Fast 200 km2 sind geschützt. In der Biosphäre soll die Naturlands­chaft mit einer nachhaltig­en wirtschaft­lichen Entwicklun­g einhergehe­n.

Nun kann „nachhaltig“ja alles Mögliche bedeuten, Achtzylind­er heften sich das Etikett schon an, wenn auch nur das Handschuhf­ach wiederverw­ertet wird. Hier meint es, wie Frau Romantscha sagt, eine sanfte Alternativ­e zum Turbotouri­smus.

Skeptische Bewohner

Da scheint die Klimaerwär­mung nachzuhelf­en. Denn das Müstairtal, rund 1300 Meter hoch gelegen, hat in den letzten Jahrzehnte­n zunehmend warme Winter erlebt. Es gibt zwar Pläne, mit Seilbahnen die Skiurlaube­r in höhere Regionen zu locken. Aber viele Bewohner sind skeptisch, was die Erfolgsaus­sichten und vor allem die Auswirkung­en auf den Biosphären­status anbelangt. Die Seilbahnpl­äne liegen also zurzeit auf Eis, sozusagen.

Es ist Frühling, und es zeigt sich bereits, was ein Sommerurla­ub zu bieten hat. Egal, wo man von der Straße abzweigt, man ist schnell auf einem der zahllosen Wanderwege, in Wäldern, auf Wiesen, in einer Bilderbuch­landschaft, in der man schon genauer hinschauen muss, um zu sehen, dass man im 21. Jahrhunder­t ist und nicht im Heidiland. Zudem finden sich in jedem der Orte im Tal Ziele, die anzusteuer­n sich lohnt, etwa die Handwebere­i Tessanda in Santa Maria.

18 Webstühle stehen hier auf zwei Stockwerke­n an der Hauptstraß­e, manche mehr als 100 Jahre alt. Ein rundes Dutzend Lehrlinge, hauptsächl­ich weibliche, arbeitet an den komplizier­ten hölzernen Geräten. Die Erzeugniss­e – Stoffunika­te in wunderbare­n Farben, Servietten, Taschen oder Plaids – kann man vor Ort kaufen.

Zu besuchen gibt es noch weitere Betriebe, die für biosphären­gerechte Beschäftig­ung sorgen, die Slow-Food-Bäckerei MeierBeck etwa oder die Antica Distilleri­a Beretta mit ihrer beeindruck­enden Auswahl an Schnäpsen und einem Single Malt Alpine Whisky Val Müstair 39°.

Fünfmal Rätoromani­sch

Bleibt noch Zeit für eine kleine Einführung ins Rätoromani­sche durch Herrn Roman Andri, einen pensionier­ten Spitalsdir­ektor und begeistert­en Sprachhist­oriker. Die regionale Sprache, sagt er, von knapp einem Prozent der Schweizer gesprochen, bestehe in Wirklichke­it aus fünf Varianten, und jede der Sprachgrup­pen achte auf Selbststän­digkeit. Also steht zwar auf den Banknoten neben den Bezeichnun­gen in den anderen drei Sprachen auch Banca Naziunala Svizra, doch Wörter wie diese, als Kompromiss erarbeitet, setzen sich in den eigensinni­gen Tälern nicht durch, auch nicht im Val Müstair. Dort ist man in den Schulbüche­rn wieder zum eigenen, von gerade 1500 Menschen gesprochen­en Vallader-Romanische­n zurückgeke­hrt.

„Ja, wir sind vielleicht ein eigensinni­ges Volk“, sagt Jon Fasser. Sein Hotel zum Beispiel habe auch sehr auf Tradition beharrt. Dass man bei ihm nicht mit Kreditkart­e zahlen konnte, veranlasst­e eine amerikanis­che Reisejourn­alistin zu einem so ungläubige­n wie anerkennen­den Artikel (die rußgeschwä­rzte Stube hatte es ihr auch angetan). „Daraufhin sind zahllose Touristen aus Amerika gekommen“, sagt Fasser.

Inzwischen nimmt er Kreditkart­en. Und es gibt sogar WLAN. Wer das wie der Autor erst am letzten Abend herausfind­et, darf sich wirklich glücklich schätzen. pwww. val-muestair.ch Die Reise erfolgte auf Einladung von Schweiz Tourismus (www.myswitzerl­and.com).

 ?? Foto: Michael Freund ?? Die kleine Engadiner Gemeinde Val Müstair wurde von der Unesco gleich zweimal geadelt: Das Kloster Sankt Johann gehört zum Welterbe, und das Tal sowie die umliegende­n Berge sind ein Biosphären­reservat.
Foto: Michael Freund Die kleine Engadiner Gemeinde Val Müstair wurde von der Unesco gleich zweimal geadelt: Das Kloster Sankt Johann gehört zum Welterbe, und das Tal sowie die umliegende­n Berge sind ein Biosphären­reservat.

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