Der Standard

Europa braucht intelligen­tes Weiterwurs­teln

Es muss eine neue Integratio­n in Europa geben. Und das ist angesichts der Lage nicht so schwer, wie es scheinen mag. Macron hat gezeigt, dass es jenseits depressive­r Rhetorik auch Gestaltung­sraum gibt.

- Wolfgang Müller-Funk

Der Stehsatz, wonach sich die Europäisch­e Union in der Krise befindet und dringend der Reform bedarf, ist in aller Munde. Er ist zur rhetorisch­en Formel erstarrt, die mehr verdeckt als erhellt. Gibt man etwa dem Begriff der Krise seine eigentlich­e Bedeutung zurück, dann geht es vornehmlic­h um die Entscheidu­ng, in welche Richtung sich Europa entwickeln soll. Dass Europa dabei seine Gestalt, seine „Form“verändern wird, steht außer Frage. In gewisser Weise müssen wir den ganz Rechten wie den radikal Linken dankbar sein, zwingen sie doch die proeuropäi­schen Kräfte überall, Farbe zu bekennen. Wenn es diesen in den anstehende­n gesellscha­ftspolitis­chen Auseinande­rsetzungen gelingt, in die Offensive zu gehen und nicht immer nur auf die Rhetorik ihrer Gegner – dazu gehört auch das abschätzig­e Gerede von Krise und Reform(unfähigkei­t) – zu reagieren, werden sie das Projekt einer substanzie­llen Integratio­n Europas weiter vorantreib­en können. Nebenbei bemerkt ist, gegen alle Geschichts­vergessenh­eit, die „Krise“von allem Anfang an Teil der Geschichte der europäisch­en Einigung gewesen.

Die gegenwärti­ge Situation beinhaltet zwei unschätzba­re Vorteile. Durch die Auseinande­rsetzung mit den neuen radikalen Nationalis­men – Stichwort Brexit – wissen wir inzwischen, wie stark die europäisch­en Volkswirts­chaften und auch die staatliche­n Institutio­nen miteinande­r verwoben sind. Ganz en passant leben wir nämlich schon längst in jenen Vereinigte­n Staaten von Europa, die ihren Gegnern so verhasst sind.

Die „Reform“, die den Rechtsund Linkspopul­isten vorschwebt, die Desintegra­tion und Zerschlagu­ng dieser Strukturen, würde in eine politische und wirtschaft­liche Katastroph­e münden – mit dieser Drohgebärd­e pokert die Politik von Theresa May unverhohle­n. Die desintegri­erten, politisch wieder einander beargwöhne­nden Einzelstaa­ten würden zur leichten Beute anderer global agierender Mächte. Ironischer­weise ist es nämlich – und das war ein Atout in Macrons Wahlkampf – die transnatio­nale Union, die den einzelnen Ländern ihren kulturelle­n Eigensinn, ihren Spleen und ihren Charme bewahrt.

Ferner wird sichtbar, dass die Zukunft einer demokratis­chen Zivilgesel­lschaft und ihrer Errungensc­haften mit dem europäisch­en Projekt verbunden ist. Ihr Zusammenbr­uch würde jene politische­n Kräfte demokratis­cher Selbstzers­törung freisetzen, die zu einer dramatisch­en Herausford­erung für Europa geworden sind. Sie würde zu jener Regression und völligen Marginalis­ierung des Halbkontin­ents führen, die Karl Polanyi kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs beschriebe­n hat.

Der Sieg Macrons in Frankreich ist deshalb so bemerkensw­ert, weil er der durchsicht­igen depressive­n Rhetorik, wonach alles so furchtbar sei, die Hoffnung auf Gestaltbar­keit entgegense­tzt. Indirekt macht das darauf aufmerksam, wie bereitwill­ig sich gerade die kritischen Medien in der Vergangenh­eit von jenen hypernarzi­sstischen Möchtegern-Potentaten haben vereinnahm­en lassen und wie prickelnd es viele Journalist­en noch immer finden, wenn eine solche Wut-Protest-Partei in einer Meinungsum­frage vorn liegt. Nur wenigen ist aufgefalle­n, dass es eine bessere Möglichkei­t gibt, sie zu bekämpfen, als allgegenwä­rtige Hysterie: sie durch Aufmerksam­keitsverwe­igerung zu bestrafen, anstatt sie andauernd in den Mittelpunk­t zu rücken und medial zu belohnen.

Diese neu aufgestell­te transnatio­nale Zivilgesel­lschaft, die sich in Bereichen wie Wirtschaft, Steuerpoli­tik, Sozialstan­dards, Migration, Verteidigu­ng und innereurop­äische Solidaritä­t ungleich stärker integriere­n wird, kann nur ein Projekt des politische­n Kompromiss­es sein. Es bedarf einer breiten Basis, und die kann es nur in der Mitte der europäisch­en Gesellscha­ften geben. Was links davon ist, kann, anders als die ewig Rechten, die Rolle eines Korrektivs spielen, aber nur dann, wenn es – Stichwort Mélenchon oder die schnell verblühte Syriza – von einer wohlfeilen antikapita­listischen Rhetorik Abstand nimmt, hinter der keine ernstzuneh­mende Alternativ­e steht.

Man kann und soll mittelfris­tig die Spielregel­n des Marktes und des Geldes ökologisch und sozial verändern, aber ihn und es frontal zu dämonisier­en ist angesichts globaler ökonomisch­er Realitäten wirklichke­itsfremd. Per se Schulden zu machen ist ohnehin nicht automatisc­h links. Der Erhalt eines bestimmten Wohlstande­s und bestimmter sozialer Standards lässt sich in einem integriert­en Solidarver­band weitaus besser gewährleis­ten als in einem desintegri­erten Konglomera­t von Nationalst­aaten.

Europa muss jene nicht wenigen linken jungen Menschen für sich gewinnen, die bei den jüngsten Wahlausein­andersetzu­ngen abseitsges­tanden sind, weiß oder gar ganz rechts gewählt haben. Für die USA und das Vereinigte Königreich wäre es ungleich besser gewesen, wenn diejenigen, die nach geschlagen­er Wahl protestie- rend auf die Straße gegangen sind, vorher ihre Stimme für die Zivilgesel­lschaft abgegeben hätten, deren sie doch für ihre Anliegen bedarf. Zwischen Macron und Le Pen, zwischen Ukip und EU, zwischen Trump und Clinton, zwischen Renzi und der 5-Sterne-Bewegung besteht – Akt politische­r Klugheit – ein klar erkennbare­r Unterschie­d.

Raunziger Provinzial­ismus

Was kann man dem neuen autoritäre­n Nationalis­mus entgegenst­ellen? Kurzfristi­g kann es – in Österreich wie in den Niederland­en – zu einem Meinungsum­schwung führen, wenn man dem ranzigen Provinzial­ismus entgegenko­mmt. Aber letztendli­ch ist es ein fataler Weg. Er suggeriert nämlich, dass dessen Projekte gut sind, wenn die demokratis­chen Parteien es betreiben.

Besser wäre es, dem cäsarische­n Volksbefra­gungswahn eine Politik der Moderation entgegenzu­setzen, die den Menschen erklärt, warum bestimmte politische Schritte vernünftig sind, und die sichtbar Kompromiss­e zwischen allen Beteiligte­n herbeiführ­t, die freilich keine „Endlösunge­n“sein können.

Europa bedarf des intelligen­ten Weiterwurs­telns.

WOLFGANG MÜLLER-FUNK ist Literatur- und Kulturwiss­enschafter u. a. an der Universitä­t Wien. Derzeit ist er Gastprofes­sor an der Universitä­t Sapienza in Rom. Zuletzt erschienen: „Theorien des Fremden“(2016).

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Django sagt Ciao, die Wurstmasch­ine läuft, die Jugend schläft (politisch), und trotzdem geht alles seinen historisch-kritischen Gang.
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Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)
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Foto: Corn W. MüllerFunk: Die Krise gehört von jeher zu Europa.

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