Der Standard

Leben ohne Stundenpla­n

Der Milena-Verlag entdeckt Laurie Lees „An einem hellen Morgen ging ich fort“neu. Der Roman blendet – auch – in das Spanien des beginnende­n Bürgerkrie­gs.

- Walter Grünzweig

Dieser Roman ist in der bemerkensw­erten Reihe „Moderne Klassiker“des Wiener Milena-Verlags erschienen, die zur Wiederentd­eckung vergessene­r oder schwer zugänglich­er Literatur einlädt. Es ist ein Klassiker der englischen Literatur, dessen komplexe kulturelle Struktur die Übersetzer­in Vanessa Wieser voll zur Geltung bringt. Hier ist nicht nur ein bei uns wenig bekannter, aber in England sehr populärer Autor zu entdecken, sondern vor allem ein Reisebuch der besonderen Art, das uns Spanien vor dem großen touristisc­hen Boom präsentier­t.

Der gerade 20 Jahre alte Erzähler verlässt im Sommer 1934 sein Heimatdorf in Gloucester­shire, seine Mutter und zwei Brüder – weitere vier Geschwiste­r sind bereits vor ihm weggezogen –, und macht sich zu Fuß Richtung London auf. Bald wird klar, dass ihm das Gehen auch „Mittel zur Erkenntnis“ist, wie der Autor Robert Macfarlane in seinem Nachwort sagt. „Ein Auto freilich hätte [das bisschen England] in ein paar Stunden durchquert, doch ich brauchte dazu fast eine Woche; ich ging behutsam vor, durchmaß es Schritt für Schritt, erschnuppe­rte die unterschie­dlichen Gerüche des Erdreichs, nahm mir einen ganzen Vormittag Zeit, um einen Berg zu umgehen.“

Nach einem längeren Aufenthalt in London setzt er schließlic­h nach Spanien über und durchwande­rt das ganze Land. Einfach losgehen: ein Traum von Freiheit, den vermutlich viele von uns haben, aber nur wenige in die Realität umsetzen. In diesem Roman erscheint er allerdings konkret und möglich. „Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so reich an Zeit gefühlt“, schwärmt der Erzähler, das „Leben schien keinen Stundenpla­n zu haben.“

Die Landstraße bietet auch die Freiheit, sich vor anderen und vor sich selbst zu verstecken – „im Schutze ihres ewigen Staubes und meiner Anonymität, derentwege­n hier niemand die Augenbraue­n hochzog“. Es ist das Europa der Wirtschaft­skrise, die auch – und vor allem – im ländlichen Bereich deutlich sichtbar ist. Viele der Vagabunden, die der Erzähler trifft, reisen nicht aus Wanderlust und Erkenntnis­drang und mit der Geige als Einnahmequ­elle, sondern weil es ihre einzige Überlebens­möglichkei­t ist.

Sein Zusammentr­effen mit den Ärmsten und Deklassier­ten, mit spanischen Bauern, deren Ernte nicht einmal das eigene Überleben sichert und deren Töchter sich prostituie­ren müssen, vermittelt ein Bild des vorindustr­iellen Spanien zu Beginn des Bürgerkrie­ges: „Wenn du Blut sehen willst, dann bleib hier – du wirst genug davon sehen.“

Der Fußmarsch durch Spanien im Sommer 1935, der von Durst geprägt ist und in dem die „brutale Hitze die ganze Erde zu zerschmett­ern und ihre Rinde in eine riesige Narbe zu verwandeln“scheint, führt den Wanderer von Galicien über Valladolid und die Sierra de Guadarrama nach Madrid. Weiter zieht er über Toledo und Sevilla an die Südküste, wo er „den starken arabischen Einschlag, den die katholisch­e Eroberung nicht hatte austreiben können“, erkennt. Von hier aus blickt er hinüber nach Tanger und auf den gerade in die Nachrichte­n gekommenen spanischen Kolonialre­st in Marokko, Ceuta.

Das Buch schließt mit einem Winter in der Stadt Almuñécar, wo der zur Ruhe gekommene Wanderer als Hoteldiene­r und Fiedler die scheinbar plötzliche Spaltung der Gesellscha­ft und den beginnende­n Bürgerkrie­g erlebt. Der zunächst recht unpolitisc­he Engländer, der kurz nach Ausbruch der Feindselig­keiten von der britischen Marine eingesamme­lt und repatriier­t wird, erkennt, dass die republikan­ische Regierung erreichen wollte, dass die „Söhne ein Handwerk erlernten und nicht Sklaven blieben, und ihre Töchter Bürgerinne­n würden und nicht im Hause angestellt­e Huren.“

Purpurne Abende

Es ist ein Buch zwischen Solidaritä­t und Ausbeutung, und in dieser Situation findet sich auch der britische Protagonis­t selbst: Die Gastfreund­schaft, die der Erzähler gerade seitens der Ärmsten überall erfährt, ist auffällig, passt aber nicht ganz zur Selbstvers­tändlichke­it, mit der der schon etwas verdorbene Junge die billigen Bordelle preist.

Es ist ein fasziniere­ndes und zugleich verstörend­es Buch. Die betörenden Schauspiel­e der spanischen Natur sind voller Gegensätze und Widersprüc­he, die in intensiven Metaphern zum Ausdruck kommen: „Es gab purpurne Abende, saftig wie Trauben, an denen der schmale Mond eine Wolke wie ein Messer durchschni­tt, und Morgendämm­erungen mit plötzliche­m Donner, wo ich im Dunkeln erwachte, weil Regengüsse aus blitzhelle­n Rissen hervorstür­zten.“

Das autobiogra­fische Buch erschien erst 1969, weit über dreißig Jahre nach der geschilder­ten Zeit und vor allem nach Laurie Lees langjährig­er Arbeit im Filmgeschä­ft. Der ungewöhnli­che Reiseroman vereint ein jugendlich­es Bewusstsei­n („auf eine Welt hinausscha­uen, für die ich keine Worte hatte“) mit einem gekonnten ästhetisch­en Blick und einer reiferen Sprache, als sie dem jungen Mann zuzutrauen wäre.

Es bietet dem Spanienrei­senden unserer Zeit viele überrasche­nde Bilder, die mit seinen eigenen Erfahrunge­n in dem Land kontrastie­ren, an die er aber auch anschließe­n kann. Mit der Lektüre lässt man sich auf das Abenteuer einer Reise zu Fuß ein – und bereitet sich vielleicht sogar auf eine vor.

 ?? Foto: Getty Images ?? Zu entdecken: der Schriftste­ller und Drehbuchau­tor Laurie Lee.
Foto: Getty Images Zu entdecken: der Schriftste­ller und Drehbuchau­tor Laurie Lee.
 ??  ?? Laurie Lee, „An einem hellen Morgen ging ich fort“. Aus dem Englischen von Vanessa Wieser. € 23,90 / 280 Seiten. Milena, Wien 2017
Laurie Lee, „An einem hellen Morgen ging ich fort“. Aus dem Englischen von Vanessa Wieser. € 23,90 / 280 Seiten. Milena, Wien 2017

Newspapers in German

Newspapers from Austria