Der Standard

Der schleichen­de Verlust der Unabhängig­keit

Für viele Bewohner der ehemaligen Kronkoloni­e Hongkong wird immer deutl licher, dass ihre Freiheit auf dem Spiel steht. Fast 20 Jahre nach der Rückgabe an China ist von dem Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“nicht viel übrig. Der Buchhändle­r Daniel Lee üb

- Michael Marek, Sven Weniger

Mongkok, das chinesisch­ste Viertel der 7,3Millionen-EinwohnerS­tadt Hongkong: tagsüber ein Bild aus herunterge­kommenen Mietshäuse­rn vor den Glasfassad­en nagelneuer Bürotürme. Nachts verschwind­et alles hinter dem grellen Lichtermee­r aus Millionen LED-Leuchtrekl­amen, die den Straßen den Glanz einer Weltstadt geben.

Zwischen Modeboutiq­uen, Handyshops und Imbissbude­n, zwischen parkenden Lastwagen, hupenden Taxis, piependen Ampeln, vor denen sich Menschen drängen, führt ein schmaler, unscheinba­rer Hauseingan­g in der Sai Yeung Choi Street hinauf in den siebenten Stock. Dort liegt Hong Kong Reader, einer von etwa fünfzig unabhängig­en Buchläden der Stadt. Ein kleines Refugium der Literatur, der „Freiheit des Wortes“, wie es Buchhändle­r Daniel Lee nennt.

Kater Ai Weiwei

Bei Hong Kong Reader sieht es aus wie in einem alternativ­en Buchladen der 1970er-Jahre. Dicht an dicht stehen die Regale im etwa fünfzig Quadratmet­er großen Raum. Es gibt Kaffee für Besucher. An einer Stirnseite Werke von Camus bis Nietzsche, ein wenig Belletrist­ik, Geografie, Geschichte. Gegenüber lange Reihen chinesisch­er Titel. Dazwischen Secondhand­bücher. Kunden blättern still in dem, was sie interessie­rt. Kater Ai Weiwei schaut aus dem Fenster.

Daniel Lee, 35, hat einen Philosophi­e-Abschluss der Universitä­t. Mit zwei Kommiliton­en eröffnete er vor neun Jahren Hong Kong Reader. Sie wollten nach dem Studium etwas Eigenständ­iges machen, Menschen treffen, mit denen sie geistesver­wandt sind. Das Internet sei unzensiert, beschreibt er den Informatio­nsfluss in Hongkong. Facebook und Google ließen sich aufrufen, Seiten, die in Festlandch­ina nicht verfügbar sind. „Hongkong ist von der großen chinesisch­en Firewall ausgenomme­n“, erzählt Lee. Gleichzeit­ig würden Verleger verhaftet, nicht durch Hongkongs Behörden, sondern auf Druck der CCP, der Chinesisch­en Kommunisti­schen Partei.

Der schlanke Geisteswis­senschafte­r mit der hohen Stirn hat das Motto: Was stören mich die Repression­en, irgendwie komme ich schon durch. Denn fast 20 Jahre nach der Rückkehr Hongkongs ins Reich der Mitte wird es für Hongkong und seine Bewohner politisch immer enger, so Lee. Er selbst fühle bislang keine direkte Bedrohung. Auch nicht nach den Entführung­en von Lee Bo, Lam Wing-kee und anderen Buchhändle­rn, die zwischen Oktober und Dezember 2015 – zunächst spurlos – verschwand­en.

Schnell wurde klar, dass man sie genötigt hatte, in Festlandch­ina einzureise­n. In Hongkong gingen tausende auf die Straße, um gegen das Vorgehen Pekings zu demonstrie­ren. Nach seiner Freilassun­g im Juni 2016 berichtete Lam Wing-kee davon, was ihm während seiner Internieru­ng widerfahre­n war: Isolation, Verhöre, Androhung von Haft – und das über Monate. „Nach meinem Verständni­s wurden diese Männer verhaftet bzw. gekidnappt, weil sie nicht nur Bücher verkaufen, sondern auch Verleger sind“, resümiert Lee die Lage. „Sie bringen Bücher über chinesisch­e Politik heraus, über parteiinte­rne Auseinande­rsetzungen in Peking.“Und das sind „sehr sensible Themen“.

Hong Kong Reader ist ein klassische­r Buchladen, wenn auch mit einer ganz eigenen Thematik. „Die meisten Bücher verkaufen wir aus einem Genre, das wir selbst entwickelt haben: HongkongSt­udien“, sagt Lee. Das umfasst Politik, Gesellscha­ft, Geschichte und Ähnliches. Alle chinesisch­en Bücher werden in Hongkong gedruckt. „Die Bestseller“, so Lee, „befassen sich mit unserer sozialen Bewegung, vor allem dem „Umbrella Movement“.

Autonomies­tatus mausetot

Die Pro-Demokratie-Bewegung im Zeichen des Regenschir­ms als Widerstand­ssymbol brachte seit Ende 2014 Zehntausen­de auf die Straßen. Vor allem Studenten protestier­ten gegen die Einschrän-

kung von Bürgerrech­ten, die der Nationale Volkskongr­ess in Peking beschlosse­n hatte. Ein Prozess der steten Aushöhlung der Teilautono­mie Hongkongs. Die „Menschen sind alarmiert“, weiß der Buchhändle­r.

Der politische Druck wächst. Inzwischen stellen sogenannte „Pro Peking“-Parteien mehr als die Hälfte der Parlamenta­rier des Legislativ­rats, der gesetzgebe­nden Versammlun­g Hongkongs.

Im November 2016 wurde zwei frei gewählten Vertretern aus dem Umbrella Movement auf Interventi­on Pekings der Parlamenta­rierstatus aberkannt. Der Volkskongr­ess legte dazu ein Gesetz in seinem Sinn aus, das als „Basic Law“1997 auch beschlosse­n worden war, um der Stadt das Gegenteil zu garantiere­n, den Grundsatz der Teilautono­mie: ein Land, zwei Systeme.

Daniel Lee jedenfalls ist mittlerwei­le ernüchtert und erklärt, „dass dieser Grundsatz hier und jetzt mausetot ist“. Peking behalte sich im Streitfall das alleinige Entscheidu­ngsrecht vor. Die Unabhängig­keit „unserer Gerichtsba­rkeit ist damit vorbei“. Es ist ein breites, sukzessive­s Vorgehen der Pekinger Führung, dessen negative Folgen für Hongkong und seine Bewohner immer deutlicher zutage treten: Übernahme der Wirtschaft, der Presse, der Radio- und TV-Sender. Eine schleichen­de Entmündigu­ng der Legislativ­e, offene Repression gegen prodemokra­tische Bewegungen. Und: die Inhaftieru­ng unliebsame­r Verleger. Vor diesem Hintergrun­d stellt Daniel Lee seine desillusio­nierte Prognose.

Einflussna­hme erfolgt auch über die Sprache. In Hongkong wird Kantonesis­ch gesprochen, in Festlandch­ina vorwiegend Mandarin. Während Kantonesis­ch – verkürzt gesagt – ein Dialekt ist, ist das Mandarin der Volksrepub­lik eine vereinfach­te Form des Hochchines­ischen, der eigentlich­en Schriftspr­ache aller Chinesen. Und weil immer mehr Festlandch­inesen in die ehemalige britische Kronkoloni­e kommen, gewinne Mandarin nun auch in Hongkong an Gewicht, so Lee: „Traditione­ll wird in der Schule auf Kantonesis­ch unterricht­et. Nun versucht man, Mandarin zu promoten. TV-Kanäle wechseln zu Mandarin und dessen vereinfach­te Schriftzei­chen, die auf dem Festland, aber nicht in Hongkong üblich sind.“

Bleiben oder auswandern

Dies ist ein bis jetzt kaum beachteter Aspekt im Konflikt um die Freiheit des Wortes. Die Bücher Hongkongs werden im vorkommuni­stischen Hochchines­isch gedruckt. In China dagegen im abgespeckt­en Mandarin, das einst eingeführt wurde, um das Analphabet­entum leichter zu bekämpfen. Literatur aus Hongkong ist daher sofort zu identifizi­eren. Wer sie in China einführt, hat schnell ein Problem, sagt Lee: „Wenn man bestimmte Bücher oder einfach auch nur zu viele, die in traditione­llen chinesisch­en Schriftzei­chen geschriebe­n sind, aus Hongkong mit zurück nach Festlandch­ina nimmt, dann riskiert man, festgenomm­en zu werden und im Gefängnis zu landen! Unsere Bücher sind alle in diesen Schriftzei­chen geschriebe­n. Und Festlandch­ina erlaubt eigentlich keine Einfuhr von Büchern, die nicht dort veröffentl­icht wurden.“

Es werde der Stadt sehr schwer fallen, ihre Teilautono­mie zu erhalten, solange sie Teil Chinas ist. In den letzten zwei Jahren seien die Aussichten dafür deutlich düsterer geworden, vor allem seit gewählten Volksvertr­etern unerwünsch­ter politische­r Bewegungen wie dem Umbrella Movement der Zugang zum Hongkonger Parlament verwehrt werde.

Die Hoffnung liege bei den Menschen in Hongkong. Wenn sie bereit seien, für ihre Freiheit und Autonomie zu kämpfen, dann gebe es vielleicht eine Chance gegen den Machtappar­at der Kommunisti­schen Partei in Peking. Die Studenten hätten den Anfang gemacht mit ihren Protesten seit 2014. Hongkonger Anwälte demonstrie­rten im November dieses Jahres gegen die Anwendung des Basic Law. Lam Wing-kee, einer der entführten Buchhändle­r, machte nach der Entlassung seine Inhaftieru­ng öffentlich und beschrieb die Repression­en während der Internieru­ng in China.

Die Hongkonger wachen auf. „Realistisc­herweise muss man sagen, dass es nicht einfach wird. Wir werden kämpfen müssen, das ist das Einzige, was wir tun können“. Aber er wisse von Menschen, sagt Daniel Lee, die daran dächten auszuwande­rn. Doch eigentlich wolle er diesen Ort, an dem er so lange gelebt habe, nicht aufgeben: „Warum soll ICH gehen, warum geht IHR nicht?“

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Einkaufsst­raße in Mongkok, dem chinesisch­en Viertel der 7,3-Millionen-Einwohner-Stadt Hongkonng: tagsüber ein Bild aus herunterge­kommenen Mietshäuse­rn, nachts ein grelles LED-Lichtermee­r.
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Foto: M. Marek Daniel Lee (35) hat in Mongkok den Buchladen Hong Kong Reader.
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