Der Standard

Vom Büroturm in den Kaninchenb­au

Verdächtig­e Wirklichke­it: In „Die Unsichtbar­en“projiziert Otto Tremetzber­ger den gesellscha­ftlichen Albtraum in den Kopf seines Helden.

- Bernhard Oberreithe­r

Schon Otto Tremetzber­gers schlanker Erstling (mit dem klingenden Titel Nelson Mandela hatte vielleicht eine schöne Zeit auf Robben Island, 2014) beschrieb einen Rückzug: Eine diffuse Mischung aus Gleichgült­igkeit und Ekel veranlasst da den Helden, seinen Alltag hinter sich zu lassen. Was mit einem Urlaubsges­uch beginnt, endet in selbstgewä­hlter totaler Isolation, eingekerke­rt in einem Atomschutz­bunker, und man konnte nicht genau sagen, ob das nicht vielleicht ein Happy End war.

Tremetzber­gers aktueller Roman, Die Unsichtbar­en, führt da schon eine geläufiger­e, aber, wie sich herausstel­lt, ebenso folgenreic­he Form des Rückzugs vor: den in sich selbst. Der Icherzähle­r, mittleres Management eines größeren Industrieb­etriebs, lebt in dem Zustand, den man wohl „innere Kündigung“nennt.

Teilnahmsl­os treibt er durch seinen Beruf, durch die Gänge und Kantinen. Was er von seiner Umgebung noch mitbekommt, von den Tischgespr­ächen seiner Kollegen, den bedrohlich wirkenden Ritualen der Hierarchie, dem Alarmgesch­rei aus den Zweigstell­en – alles das wirkt, als hätte sich da einer schon lange zurückgele­hnt in einer Art innerem Kinosaal, in dem er eher widerwilli­g der Vorführung folgt.

Beobachtun­gen und Gesprächsf­etzen wechseln sich dort ab mit Erinnerung­en, Fantasien, ausführlic­hen Passagen im Konjunktiv. Auf Momente geistiger Abwesenhei­t folgen zeitlupena­rtig gedehnte, fast stillgeste­llte Szenen. Betäubt, betäubend wirkt das, aber das Beruhigung­smittel des Helden ist wohl schlicht ein nicht abzuschütt­elndes Gefühl des Befremdens.

Anruf von K.

Eine Art Angestellt­enroman also; bevor der Held sich allerdings wie die prominente­n Kollegen im Genre zu langen Spaziergän­gen oder sexuellen Eskapaden entschließ­en oder sich den Blick für die sogenannte­n „kleinen Dinge“aneignen kann (das wäre in etwa die Variante Genazino), unterbrich­t eine Nachricht auf dem Schreibtis­ch den Trott, eine Notiz des Büronachba­rn: „Du sollst K. anrufen!“

„K.“ist ein alter Bekannter, für uns wie für ihn: Wir verstehen natürlich das wenig subtile Signal für zu erwartende Kafka-Anleihen, worauf man im weiteren Verlauf zum Glück nicht zwangsläuf­ig achten muss. Für den Icherzähle­r ist K. ein Jugendfreu­nd, ein ehemals bester Freund, wie es den Anschein hat, der sich im Lauf der Jahre jedoch zu einer Art ungeliebte­m Gegenbild entwickelt hat: Zur eigenen privat wie beruflich profillose­n, stromlinie­nförmigen Kompromiss­existenz, die der Held nach einem Intermezzo am Theater eingegange­n ist.

K. hingegen hat beruflich und privat nie Fuß gefasst, ist arbeitslos und verarmt, dafür politisch aktiv. Sein Gesicht findet sich auf Zeitungsfo­tografien von Demonstrat­ionen – die wiederum der Icherzähle­r (so eine sinnreich eingefloch­tene Episode) nur aus der Perspektiv­e des verkehrsbe­hinderten Passanten auf dem Weg zum Meeting erlebt.

K. jedenfalls liegt gerade im Krankenhau­s, dorthin gekommen ist er mit Prellungen und Abschürfun­gen, „ein Handgemeng­e“, erfährt man. Der Icherzähle­r reist für ein paar Tage nach Wien, um ihm Gesellscha­ft zu leisten (man hat sich nur noch wenig zu sagen), und quartiert sich dabei in der herunterge­kommenen Wohnung des Freundes ein.

Nun hält Tremetzber­gers Roman allerdings einen „plot twist“bereit. Das eine oder andere Detail war schon länger verdächtig, aber bisher befanden wir uns, grob gesagt, in einer Geschichte über Entfremdun­g im Spätkapita­lismus, erzählt in einem Ton, der exakt die Mitte aus müder Resignatio­n und minimaler Genervthei­t hielt.

Zwei sehr aktuelle Methoden des Verschwind­ens wurden gegeneinan­dergestell­t: das Aufgehen in der Konformitä­t (... „wir tragen alle dieselbe italienisc­he Marke“...) und das Verschwind­en im gesellscha­ftlichen Abseits („Ich bin einfach über die Straße gegangen. Keiner bremste. Als wäre ich Luft ...“).

So einfach ist die Sache aber nicht: Anfangs unmerklich, bald unübersehb­ar wird aus der erzählten Wirklichke­it eine surreale Bilderfolg­e. Schrittwei­se wird unse- re Paranoia gefüttert, werden die Straßenzüg­e zu Kulissen, die Passanten und Taxifahrer zu Schauspiel­ern oder Automaten. Allerspäte­stens beim Anblick der rätselhaft­en Requisiten und Personen, die sich in der Wohnung des Freundes finden (darunter ein totes Kaninchen, Lewis Carroll lässt grüßen), tut sich der subtile Schrecken des Romans auf.

Atmosphäri­sche Dichte

Tatsächlic­h war er, wie man rückblicke­nd merkt, von den ersten Kapiteln an ein gekonnt konstruier­tes Spiegelkab­inett, ein Albtraum, der die gesellscha­ftliche Misere in den Kopf des Helden projiziert. Der Rückzug dorthin war dementspre­chend ein fataler Fehler.

Ein überzählig­es Ausstattun­gsdetail hier und da (die eine oder andere Maske, den einen oder anderen Doppelgäng­er) könnte man vielleicht anmerken. Das trübt aber keineswegs die Freude an diesem Buch – an der bemerkensw­erten atmosphäri­schen Dichte, mit der Otto Tremetzber­ger den Weg seines Helden vom Büroturm in den Kaninchenb­au beschreibt, an der Kunstferti­gkeit des Autors beim Verdächtig­machen der Wirklichke­it.

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Foto: Armin Bardel Gekonnt konstruier­tes Spiegelkab­inett: Otto Tremetzber­ger.
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