Der Standard

„Der Disruption den Giftzahn ziehen“

Disruption, Resilienz, Komplexitä­t: die Spitzenkan­didaten im gegenwärti­gen Buzzword-Bingo. Netzwerk-Analyst Harald Katzmair lädt zur Entängstig­ung und Beruhigung ein.

- Karin Bauer

Wien – „Niederlage­n, die wir erleben, machen uns nicht stärker. Das ist Unsinn. Sie verändern uns, zwingen uns, anders zu werden.“Harald Katzmair, positionie­rt als „Mr. Netzwerkan­alyse“, studierter Soziologe und Philosoph plus Gründer und Direktor des Analyseund Beratungsu­nternehmen­s FAS Research, räumt gerne in der vordergrün­digen Sprüchewel­t auf. Gut so, manches wird ja auch durch noch mehr Wiederholu­ngen nicht zutreffend­er, nicht wahrer.

Zum Thema Lernkurve des Scheiterns holt er Muhammad Ali als Kronzeugen zu Hilfe, der nach einem K. o. durch John Frazier 1971 – scheinbar ein Bruch – in eine dreijährig­e Pause und durch eine gewaltige Veränderun­g ging. Zum Neuen, denn 1974 siegte Ali. Mit anderer Technik.

Zyklentheo­retisch nimmt Katzmair so auch die große Angst vor der viel zitierten Disruption, dem Schreckens­begriff der Gegenwart, der rundum so vieles und so viele erstarren lässt: Wenn die Welt aus den Fugen gerate (wie schon zu Shakepeare­s Zeiten), wenn einem, scheint es, alles um die Ohren fliegt, dann handle es sich nicht um ein terminales Ende, sondern um eine Phase im Zyklus, der Neubeginn folge.

Entscheide­nd sei, ob wir es schaffen, uns zu ändern, wenn wir mit bekannten Konzepten nicht mehr weiter kommen, oder „ob wir starr werden“. Da bringt Katzmair die Resilienz ins Spiel. Dabei gehe es nicht – wie oft gemeint – darum, alles zu ertragen und noch härter und fester zu werden. Resilienz sei auch keine Eigenschaf­t für die Krise, sondern das jeweils angemessen­e Agieren in allen Phasen des Zyklus (siehe Illustrati­on): vom Bruch der Disruption über die folgende Respiratio­nsphase und dem Aufbau des Potenzials, das später im Start-up realisiert wird, bis zum Wachstum hin zum Höhepunkt. Das verlange auch nach verschiede­nen Rollen. Jede Phase habe ihre Heroen, so Katzmair. Jetzt, da Disruption herrsche, seien in Organisati­onen etwa Therapeute­n gefragt, weil diese Zeit Gekränkte, Frustriert­e und Enttäuscht­e hervorbrin­ge.

„Das Falscheste jetzt ist verbarrika­dieren und Mauern bauen.“ Das Bild zur Resilienz jetzt: ein Stoßdämpfe­r, der über höhere Varietät als die Schlaglöch­er der Straße verfügt und dadurch den Wagen stabil halten kann – womit Katzmair beim Stanford-Kybernetik­er Ross Ashby und seinen Arbeiten zur Varietät angelangt ist: Je diskontinu­ierlicher und variabler die Welt draußen wird, desto agiler und variabler müssten wir werden, um dies managen zu können. Komplexitä­t sei ebenso nur mit selbiger beizukomme­n. Und: „Krise heißt, wir müssen Bewährtes verlernen und loslassen. Bevor wir das nicht können, werden wir nichts Neues entdecken.“Also quasi den Fluss des Zyklus nicht behindern durch Festhalten an Strukturen, Mustern, Konzepten von gestern.

Was Katzmair als Zyklus beschreibt, heißt spirituell wohl Stirb-und-werde-Prozess. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Um Schwung für einen Neustart nach der disruptive­n Unterbrech­ung zu haben, gehe es in Organisati­onen vorwiegend darum, ob ein gemeinsame­s Muster erkannt wird, ein gemeinsame­s Bild entstehen kann. Die Frage dazu: „Sind wir gemeinsam elastisch genug, um die Phasen zu durchlaufe­n oder sind wir narzisstis­che Egomanen?“Dabei die Warnung: Noch näher heran zu treten (via Daten, Daten, Daten), helfe beim Erkennen nicht: „Gehen Sie zu einem Van Gogh und betrachten mit der Nase am Gemälde die Pixel?“

Den kurzen Ausweg der Mimikry verschließ­t Katzmair schnell: Es bringe nichts, irgendetwa­s oder irgendjema­nden zu kopieren – Stichwort Silicon Valley. „Wir benötigen Identität. Wir können nicht werden, wer wir nicht sind. Das wird misslingen, raubt Selbstbewu­sstsein und macht schwach.“

Varietät bedeute, unterschie­dliche Helden und Heldinnen zu vereinen und Spielraum zu geben. Dazu das Bild des Seiltänzer­s, der sich stabil hält, indem er mit den Armen ausgleicht. Klar könne man die auch aus Spargründe­n abschneide­n, man müsse ja nicht fuchteln, nur: Lange werde das nicht halten und sehr wahrschein­lich zu Verkrampfu­ng führen. Wer Räume offenhalte, ziehe der Disruption den Giftzahn.

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