Der Standard

Manchester sucht einen Ausweg aus der Angst

Tage nach dem schweren Anschlag auf ein Konzert sucht Manchester den Weg zurück zur Normalität. Doch noch immer gibt es fast stündlich Operatione­n der Polizei. Sie vermutet ein Netzwerk hinter dem 22-jährigen Attentäter.

- REPORTAGE: Sebastian Borger aus Manchester

Wie Hunderte ihrer Mitbürger wollte auch Amina Lone den Opfern des Bombenansc­hlags in ihrer Stadt die Ehre erweisen und einen Blumenstra­uß niederlege­n. Doch überall waren Schnittblu­men ausverkauf­t, erst im dritten Geschäft wurde die Sozialwiss­enschafter­in (45) fündig. Die Szenerie am St.-Ann’s-Platz mitten in Manchester rührte sie zu Tränen. „Aber ich wollte nicht weinen. Wir reißen uns zusammen.“

Um 11 Uhr haben sich am Donnerstag wieder Hunderte am St.Ann’s-Platz getroffen. In einer Schweigemi­nute gedenkt ganz Großbritan­nien der 22 Toten und Dutzenden Schwerverl­etzten, die am späten Montagaben­d Opfer eines islamistis­chen Bombenansc­hlags wurden. Tags darauf wollten die Parteien den UnterhausW­ahlkampf wieder aufnehmen, den sie unterbroch­en hatten.

Langsam kehrt Manchester zu einer Art Normalität zurück. Heute, Freitagabe­nd, steigt auf dem Albertplat­z ein internatio­nales Leichtathl­etiktreffe­n, am Sonntag wollen Tausende von Hobbyläufe­rn am Halbmarath­on durch die Stadt teilnehmen. „Das Leben muss ja weitergehe­n“, sagt die Muslimin Lone. „Wir lassen uns unseren Lebensstil nicht nehmen.“Da schaltet in der Nähe ein Krankenwag­en seine Sirene an, und sie zuckt zusammen.

Manchester, am Tag drei nach dem Massenmord. Im Kinderkran­kenhaus besucht die 91-jährige Königin Elisabeth II. Teenager. Das Konzert der US-Popsängeri­n Ariana Grande war gerade zu Ende, als der Selbstmord­attentäter Salman Abedi (22) im Foyer der mit 21.000 Plätzen ausverkauf­ten Mehrzweckh­alle seine mit Nägeln gefüllte Bombe zündete.

An diesem Vormittag muss schon wieder eine wichtige Verkehrsad­er gesperrt werden, um eine Hausdurchs­uchung zu ermögliche­n. Tags zuvor war es die Hauptbahnl­inie nach London gewesen. Die Jagd nach Abedis Hintermänn­ern ist in vollem Gang. Die Kriminaler glauben nicht, dass der 22-jährige Uni-Abbrecher die vergleichs­weise komplizier­te Bombe selbst gebaut hat.

G7-Gipfel überschatt­et

Deshalb hat Premiermin­isterin Theresa May am Dienstagab­end mit ernster Miene verkündet, die Terrorbedr­ohung des Landes müsse nun von „ernst“auf „unmittelba­r bevorstehe­nd“hochgestuf­t werden. Ihren Besuch beim Gipfel der G7 in Sizilien, der heu- te, Freitag, beginnt, wird sie kürzer gestalten als ursprüngli­ch geplant – obwohl der Terrorismu­s dort größer als bisher geplant auf der Tagesordnu­ng stehen soll.

Die Polizei rekonstrui­ert derweil fieberhaft die letzten Tage und Wochen des in der Stadt geborenen Sohns libyscher Eltern. Das Haus der Familie Abedi in der Elsmore Road im Stadtteil Fallowfiel­d stellen sie schon seit Dienstagmo­rgen auf den Kopf. Der Zugang zu den rund 50 Metern der Straße, an denen auch das Haus steht, bleibt abgeriegel­t. Immerhin vermittelt der Augenschei­n den Eindruck, dass es keines jener Ghettos ist, die es auch im Großraum Manchester gibt. Wie aber wurde aus dem unauffälli­gen Schüler und Wirtschaft­sstudenten Abedi ein Massenmörd­er? In Frankfurt sei er kürzlich gewesen, heißt es aus Ermittlerk­reisen, in Libyen bei den Eltern sowieso. Seine letzte Heimreise führte aus der Türkei nach Manchester. Erhielt er zuvor im Bürgerkrie­gsland Syrien eine Terrorausb­ildung?

„Eine Frage der Zahlen“

Eines steht längst fest, wie Innenminis­terin Amber Rudd schon am Mittwoch einräumte: Abedi war kein unbeschrie­benes Blatt. Von „fünf verpassten Gelegenhei­ten“schreibt der konservati­ve Telegraph. Erst vor kurzem hatte laut Londoner Times ein naher Angehörige­r bei den Behörden Alarm geschlagen. Abedis Eltern seien so besorgt gewesen, dass sie kurzfristi­g den Pass des 22-Jährigen konfiszier­ten. Erst als dieser von einer geplanten Pilgerfahr­t nach Mekka berichtete, habe er das Reisedokum­ent wieder bekommen.

Bereits fünf Jahre zurück liegen laut BBC die Warnungen zweier Jugendarbe­iter: Sie meldeten sich bei der Terror-Hotline der Polizei und berichtete­n von Abedis Bewunderun­g für Suizidatte­ntäter. Nichts geschah – damals nicht, in diesem Jahr nicht. Das sei eine Frage der schieren Zahlen, nimmt Londons früherer Polizeiprä­sident die aktiven Kollegen in Schutz: „Es gibt nicht genug Kapazität, und in Wahrheit kann es auch nie genug geben“, sagt Ian Blair, der während der Massenmord­e vom 7. Juli 2005 (52 Tote, hunderte Verletzte) im Amt war.

Streit um US-Leaks

Ian Hopkins, der Polizeiprä­sident von Manchester, trägt nüchtern die relevanten Fakten vor: Acht Männer sind an diesem Donnerstag in Haft, eine Frau wurde nach stundenlan­gem Verhör wieder entlassen. Ganz kurz geht der Polizeiprä­sident auch auf den transatlan­tischen Streit ein, der die Untersuchu­ng von Manchester überschatt­et. Traditione­ll betreiben britische und amerikanis­che Geheimdien­ste einen engen Informatio­nsaustausc­h auf der Basis, dass die relevanten Fakten geheim bleiben. Nicht so diesmal: Zunächst der Name des Täters, am Mittwoch sogar Fotos vom Tatort wurden US-Medien zugespielt. „Empörend“finden das Londoner Kabinettsm­itglieder. May kündigte an, sie wolle am Rand des NatoGipfel­s US-Präsident Donald Trump zur Rede stellen. Der verurteilt­e in seiner Rede die Leaks.

Ian Hopkins jedenfalls hat bis auf weiteres die Weitergabe von Informatio­nen an die Amerikaner eingestell­t. Mit seinen kurzen, klaren Statements zur Lage ist der Polizeiche­f ebenso zu einem Gesicht von Manchester geworden wie der erst zu Monatsbegi­nn gewählte Bürgermeis­ter der Großregion Andrew Burnham. Der Labour-Politiker steht am Mittwochab­end auf dem St.-Ann’s-Platz vor dem improvisie­rten Blumenschr­ein für die Opfer. „Wir lassen uns nicht unterkrieg­en“, sagt er. „Wir stehen zusammen gegen den Terror, gemeinsam mit den 99,9 Prozent friedliebe­nden Muslimen unter uns. Die Terroriste­n wollen die Spaltung der Gesellscha­ft, aber wir lassen das nicht zu.“

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Schweigemi­nute in Machester: Die Bürger der Stadt wollen sich von der Angst vor dem Terrorismu­s nicht unterkrieg­en lassen. Wegen der anhaltende­n Polizeiope­rationen fällt das vielen schwer.

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