„Landflucht ist nicht irreversibel“
Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter will den Zug in die Stadt bremsen, unter anderem mit besseren Einrichtungen zur Kinderbetreuung. Zukunftsforscher Harry Gatterer sieht die Bürgermeister in der Pflicht.
INTERVIEW:
Standard: Regierungskrise hin, Neuwahlen her – Landflucht scheint ein Phänomen zu sein, das sich schwer stoppen lässt. Vor allem die Jugend drängt in die Stadt? Rupprechter: Wir selbst sind gute Beispiele. Ich bin im Zuge der Bildungswanderung von der kleinen Gemeinde Brandenberg in Tirol in die Stadt gezogen ... Gatterer: … und ich von Niederndorf, ebenfalls Tirol. Rupprechter: Wobei Tirol gar nicht so stark unter Landflucht leidet, da gibt es problematischere Regionen. In Tirol haben wir eine vergleichsweise gute Versorgung mit qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen.
Osttirol fühlt sich abge-
Standard: hängt? Rupprechter: Das ist, zugegeben, eine Problemgegend in Tirol, wie das Kaunertal in Nordtirol. Doch anderswo außerhalb Tirols ist der Abwanderungsdruck noch viel massiver. Von Gegenden im Waldund Mühlviertel, auch von der Mur-Mürz-Furche in der Steiermark wissen wir, dass die stark von Landflucht betroffen sind. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung könnten bis 2030 von dort wegziehen. Abwanderung ist nicht irreversibel, aber man muss etwas tun und dem Sog der Ballungszentren entgegenwirken.
Standard: Ein, zwei Maßnahmen allein reichen wohl nicht? Rupprechter: Deshalb erstellen wir bis zum Sommer unter Mitwirkung aller Stakeholder einen Masterplan. Da gehören Themen wie Wirtschaften auf dem Land, Leben auf dem Land, Pflege, Kinderbetreuung generell und auch Ganztagesschulen dazu. Landflucht ist auch stark weiblich. Vor allem für gut ausgebildete Frauen ist es sehr schwer, von der Stadt wieder zurück aufs Land zu kehren.
Standard: Der Masterplan sollte, so der ursprüngliche Plan, von der Regierung im Oktober beschlossen werden. Stattdessen gibt es Neuwahlen. Und der Masterplan verschimmelt? Rupprechter: Nein, denn es gibt das Bekenntnis der Volkspartei zu einem starken ländlichen Raum. Ich mache die Tour durch Österreich fertig und erarbeite mit allen Stakeholdern und den Experten bis Juli den Masterplan. Die Ergebnisse können dann in die nächsten Regierungsverhandlungen einfließen. Gatterer: Das Land, die Regionen und damit die Dörfer haben auch große Vorteile. Die Macht und Gestaltungskraft, die ein Bürgermeister hat, sind nicht zu unterschätzen. Die Frage ist, was man daraus macht.
Standard: Aber gerade in Gemeinden, die stark unter Abwanderung leiden, ist es oft so, dass die Bürgermeister wenig Geld haben, die nötige Infrastruktur bereitzustellen? Gatterer: Das stelle ich in Abrede. Es gibt jetzt tolle Programme, mit denen Projekte in den Regionen gefördert werden. Man muss sie nur abrufen. Es sind oft die Ideen, die fehlen, mangelnde Einsicht, was nötig wäre, die Menschen zu halten oder zurückzuholen. Rupprechter: Dem stimme ich zu. Wir haben in der Regierung ein kommunales Investitionspaket beschlossen, das 175 Millionen Euro heuer und nächstes Jahr vorsieht. Damit kann Gemeinden geholfen werden. Außerdem müssen wir schauen, kein Geld in Brüssel liegenzulassen. Während es uns gelungen ist, jeden Cent aus dem ländlichen Entwicklungsfonds abzuholen und jährlich rund 1,1 Milliarden Euro zur Auszahlung zu bringen, ist uns das im Bereich der Regionalfonds bisher nicht in vollem Ausmaß gelungen.
Standard: Müsste man nicht auch die Leute vor Ort befragen, was die sich eigentlich wünschen? Gatterer: Das wurde gemacht. Es geht immer und in erster Linie um Basiseinrichtungen: Kindergarten, Schule, Nahversorgung, Jobs. Man muss den Alltag gestalten können, dann passt es. Rupprechter: Die Bevölkerung auf dem Land ist hochzufrie- den mit der Lebensqualität. Gerade bei jungen Familien sind aber viele darauf angewiesen, dass beide, Mann wie Frau, arbeiten gehen. Ganztagesbetreuung für Kinder ist das Um und Auf. Wenn wir die jungen Frauen zurückgewinnen wollen, müssen wir politisch über unseren Schatten springen. Ich sehe mich auch und gerade in meinem politischen Umfeld immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert: Ihr wollt den Eltern die Kinder wegnehmen. Mir geht es aber um die Wahlfreiheit, um nichts anderes. Gatterer: Noch etwas sollten wir bedenken. Wir leben in einer Gesellschaft, die deutlich älter wird. Da kommen noch zusätzliche große Herausforderungen auf uns zu.
Standard: Landflucht ist ein globales Phänomen, ein Megatrend? Gatterer: Alle Prognosen besagen, dass im Jahr 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden. In Österreich ist diese Bewegung vergleichsweise klein. Wenn man aber nach Asien oder Afrika schaut, sind es regelrechte Völkerwanderungen, die dort passieren.
Standard: Ohne Tourismus wären viele Täler in Tirol längst leer. Andererseits wollen viele Leute vor Ort nicht im Tourismus arbeiten? Rupprechter: Durch den Tourismus entstehen aber auch Arbeitsplätze in anderen Bereichen. Wir haben in Tirol eine starke Industrie, einen starken KMU-Sektor und Tourismus als starken Wirtschaftszweig. Das ist der Grund, warum Tirol in puncto Abwanderung vergleichsweise gut dasteht.
Standard: Sie halten trotz Gegenwinds am Plan fest, Bundesstellen in die Regionen auszulagern? Rupprechter: Ja, weil wir mit der Schaffung von Kompetenzzentren vor Ort sehr viel bewegen können.
Standard: Zum Beispiel? Rupprechter: Wir haben im Zuge der Fusion mehrerer Institute die Bundesanstalt für Wasserwirtschaft in Scharfling am Mondsee angesiedelt. Zudem haben wir die Höhere Schule für Landwirtschaft in Raumberg in der Obersteiermark mit der Bundesanstalt für landwirtschaftliche Forschung in Irdning zusammengelegt. Irdning in der Obersteiermark hat seither die höchste Akademikerquote Österreichs im ländlichen Raum. Nicht nur Lehrer haben sich dort angesiedelt. Rundherum sind auch andere Spin-offs entstanden. In Rotholz in Tirol sind wir dabei, ein Kompetenzzentrum für die alpenländische Landwirtschaft zu schaffen und, und, und.
Standard: Der technologische Wandel müsste Ihnen, der Sie die Landflucht stoppen wollen, doch in die Hände spielen – Stichwort 3DDruck? Rupprechter: Davon gehe ich aus, nicht zuletzt weil der Lebensraum attraktiv ist. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen viel lieber in einem Einfamilienhaus im Grünen leben würden als beispielsweise in einem Wohnsilo in Wien. Prognosen zufolge wird sich der Großraum Wien einwohnermäßig bis 2050 in etwa verdoppeln. Diesen Zuzug, der nicht nachhaltig sein kann, etwas abzubremsen ist Hauptansatzpunkt, warum ich diesen Gegentrend bewusst anstoßen möchte. Es geht nicht darum, die Städte zu schwächen, sondern die Attraktivität der Regionen zu erhalten oder wiederherzustellen.
Wenn wir die Frauen zurückgewinnen wollen, müssen wir politisch über unseren Schatten springen. Es geht immer und in erster Linie um Basiseinrichtungen: Kindergarten, Jobs, Schule, Nahversorgung.
Standard: Wollen Sie Umweltund Landwirtschaftsminister bleiben, falls die ÖVP nach den Wahlen im Herbst wieder Regierungsverantwortung übernehmen sollte? Rupprechter: Ja natürlich, denn ich möchte noch viel für die Bäuerinnen und Bauern, die Regionen und die Umwelt tun.
ANDRÄ RUPPRECHTER (55) ist das elfte Kind einer Tiroler Bauernfamilie, er studierte an der Universität für Bodenkultur, wo er durch die ÖH erste politische Funktionen erreichte. Franz Fischler holte ihn ins Landwirtschaftsministerium, wo er zum Sektionsleiter aufstieg, ehe er 2007 zur EU nach Brüssel wechselte, wo er ebenfalls eine steile Karriere machte. 2013 kam er als Minister zurück nach Wien.
HARRY GATTERER (42) ist Trendforscher, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts Österreich und Experte für „New Living“. Seine Domäne: die Zukunft von Leben und Arbeiten, neue Lebensstile und ihre Wirkung auf Gesellschaft, Unternehmen, Konsum und Freizeit.