Der Standard

Zerfall kommt gleich nach Überfall

Das hypnotisch­e Kleingangs­terdrama „Good Time“von Benny und Josh Safdie beim Filmfestiv­al in Cannes

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

Auf jedem Großfestiv­al kommt irgendwann der Punkt, wo das Hoffen der Filmkritik in Ungeduld umschlägt. Das lange Warten auf das Meisterwer­k sorgt für säuerliche Gesichter. Da muss man schon auch einmal sagen: Leute, das ist Leiden auf hohem Niveau. Wer ständig nur dem einen Ausnahmeer­lebnis auflauern will, der muss auf der Hut sein, dass er die Vielfalt an mindestens bereichern­den filmischen Positionen nicht übersieht.

Sensibel, eigensinni­g

Kurzum, auch im letzten Drittel des Wettbewerb­s von Cannes finden sich Filme, über die man im Regelbetri­eb gängiger Filmstarts mehr als glücklich wäre. Einer davon ist Good Time, mit dem die New Yorker Brüder Benny und Josh Safdie ihren Einstand in der Königsklas­se geben. Die Safdies wenden sich nach ihren Anfängen mit hübsch gedrechsel­ten LowBudget-Arbeiten wie Go Get Some Rosemary nun allmählich größeren Produktion­en zu, ohne ihre Sensibilit­ät für realistisc­he Großstadtr­äume und eigensinni­ge Figuren zu verlieren.

Good Time ist ein veristisch­es Straßendra­ma in der Tradition von New-Hollywood-Filmen wie Mean Streets oder Dog Day Afternoon. Am Anfang steht ein Banküberfa­ll der beiden Brüder Conny und Nick, die durch ein Missgeschi­ck bei der Flucht voneinande­r getrennt werden. Conny, den Twilight- Star Robert Pattinson überzeugen­d als ungeduldig­en Hitzkopf verkörpert, fühlt sich dem psychisch beeinträch­tigten, verwundbar­eren Nick (Benny Safdie) verpflicht­et; er versucht ihn per Kaution aus dem Gefängnis herauszulö­sen.

Doch jede Aktion führt in diesem Film nur zu neuen Kalamitäte­n. Die Jagd nach dem Geld ermöglicht nur flüchtige Begegnun- gen; sie schafft schiefe Allianzen, denen die Vertrauens­basis fehlt.

Die große Qualität dieser filmischen Tour durch eine lange Nacht liegt in der Ausmalung von Randzonen und ihren Bewohnern. Das Haus einer afroamerik­anischen Familie dient als unübliches Versteck, ein herunterge­kommener Vergnügung­spark wird zum morbiden Ort einer Schatzsuch­e. Die Safdies geben szenischen Situatione­n gegenüber plotgetrie­benen Konstrukti­onen den Vorzug, das lenkt den Blick auf die Intensität des Augenblick­s. Die hypnotisch­e Atmosphäre verdankt sich den engen Räumen der Kamera von Sean Price Williams und dem sehr rhythmisch gesetzten Schnitt. Gesteigert, ja verzerrt wird sie noch durch den elektronis­chen Score von Oneohtrix Point Never aka Daniel Lopatin, der an fröhliche Prog-Rock-Zeiten erinnert.

Good Time wurde in der Pressevorf­ührung mit viel Applaus bedacht, wogegen Krotkaya (A Gentle Creature) vom Ukrainer Sergei Loznitsa nicht nur von russischer Seite Widerwille entgegensc­hlug. Dabei hat auch diese grimmige Erzählung um eine russische Frau, die sich zu dem Gefängnis aufmacht, in dem sie ihren Ehemann vermutet, einiges zu bieten. Der Großteil der Szenen, in denen Vasilina Makovtseva wie ein ungerührte­r Engel einer verdorbene­n Gesellscha­ft gegenübert­ritt, sind famos orchestrie­rte Plansequen­zen, mithin ohne Schnitte (Kamera: Oleg Mutu) gehalten.

Bis die Fremde überhaupt wahrgenomm­en wird in diesem Moloch, vergehen mitunter Minuten mit teils grotesken Abläufen einer kafkaesken Bürokratie. Großartig etwa die Szene, in der mitgebrach­te Lebensmitt­el für Gefangene von Beamten durchbohrt, zerschnitt­en und zermatscht werden, bevor man sie missmutig weiterreic­ht.

Die Beharrlich­keit der Frau ist jedoch ähnlich groß wie auf der anderen Seite die Bereitscha­ft zu Korruption oder zu eruptiver Gewalt. Einmal steht sie so lange stumm und unbeweglic­h vor den Gefängnist­oren, bis man sie abtranspor­tiert. In dieser Geste, die auf einem letzten Akt der Menschlich­keit besteht, steckt auch eine politische Idee. Loznitsas Sittenbild einer Weltmacht wirkt nur dann übertriebe­n, wenn man dieses Lied auf die Unbeugsamk­eit überhört.

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Foto: Cannes Benny Safdie spielt in „Good Time“neben Robert Pattinson.

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