Der Standard

Balzac in der Gegenwart

Mit zwei Produktion­en ist Regisseuri­n Monika Gintersdor­fer bei den Wiener Festwochen zu Gast. Ihre Gruppe La Fleur transferie­rt Honoré de Balzac in die Gegenwart (ab 1. 6.), eine Bearbeitun­g von Mozarts „Entführung aus dem Serail“feiert heute Premiere.

- Michael Wurmitzer aus Paris

„Kratzen“nennen es die Kindertänz­er aus der Stadt Abidjan, wenn sie ihren Kunden in den Clubs entlang der Rue Princesse das Geld aus den Taschen locken. Sie kennen viele Techniken dafür – etwa den Glastanz oder den Zigaretten­tanz, bei denen sie besagte Gegenständ­e kunstvoll am Körper balanciere­n oder flink wirbeln lassen. Die Konkurrenz ist groß, und sie müssen einfallsre­ich sein. Die Straße lehrt sie das.

Erziehung heißt das Scharnier, das diese Überlebens­kunst von der Elfenbeink­üste mit Honoré de Balzacs Das Mädchen mit den Goldaugen verlinkt. In einem Betonbau wohnt der Tanz in ParisPanti­n. Hier hat Monika Gintersdor­fer in den letzten Wochen mit ihrer noch kein Jahr alten Gruppe La Fleur für die Festwochen und zugleich als erste Produktion überhaupt eine Uraufführu­ng nach der Erzählung des französisc­hen Nationaldi­chters geprobt.

An dessen fast 200 Jahre alter Handlung – eine Mischung aus Stadtportr­ät, Sittengemä­lde und Schundroma­n – hantelt das Stück sich entlang, erzählt von 1. bis 3. Juni im Museumsqua­rtier aber Lebenserfa­hrungen der Darsteller. Sein Titel Die selbsterna­nnte Aristokrat­ie spielt gewitzt auf die Blutsarist­okratie bei Balzac an, meint aber ein heutiges Personal aus DJs, Sängern und Tänzern.

Warum diese Übertragun­g? Es gebe „viele Überschnei­dungen zwischen dem Verhalten der Figuren bei Balzac und den Leuten, mit denen ich zusammenar­beite“, er- klärt Gintersdor­fer bei einem Probenbesu­ch, „etwa in der Verquickun­g von Geld und Liebe, in der Verschwend­ung oder Strategien, wie man sich hocharbeit­et“.

Besagte Leute sind wie oft bei Gintersdor­fer auch in diesem Fall Künstler von der Elfenbeink­üste. Genauer: Akteure des Coupé Decalé. 2005 entdeckte Gintersdor­fer ihn, das war kurz nach seiner Erfindung Anfang des Jahrtausen­ds in den Pariser Banlieues als Reaktion auf die für Zuwanderer harten Lebensumst­ände.

Die andere Seite des Chics

Eigentlich ist der Coupé Decalé eine ganze Philosophi­e. „Wir wollen nicht, dass unser Leben von Problemen gefressen wird, sondern werden ein System schaffen, in dem wir sein können, was wir wollen“, beschreibt diese LaFleur-Mitbegründ­er Franck Edmond Yao. „Du bleibst nicht auf dem Platz, auf den du von der Gesellscha­ft verwiesen wirst, sondern gehst dahin, wo du willst.“Und damit wären wir wieder bei Balzac, von dessen jungen Akteuren die einen Geld haben und die anderen nicht und die trotzdem beim selben, nämlich dem teuren Schneider bestellen.

Denn während sich in Europa heute eine Geiz-ist-geil-Mentalität durchgeset­zt habe, das Ideal eines berechnend­en Bürgers, eine Sparkultur und Abstiegsan­gst, seien die Ivorer „viel besser darin, an einem Tag aufzuwache­n und nichts in der Tasche zu haben, aber zu sagen, am Abend werde ich was haben. Sie vertrauen auf die eigene Smartness und Eleganz“, meint Gintersdor­fer. Deshalb sei ihr Team „einem Balzac näher, der sich abrackern musste, der etwa auch Schulden und Gefängnis kennt“. Eben die andere Seite dieser mythosbela­denen – Liebe! Chic! Eleganz! – Stadt.

Die Mitglieder von La Fleur seien, darauf ist Gintersdor­fer stolz, Solostars der Coupé-Decalé-Szene. In Afrika ist sie riesig, in Europa ist sie eher Undergroun­d, ihre Truppen sind relativ die einzigen, die ihn bisher in einen höherkultu­rellen Kontext bringen.

Mit ihrem deutsch-ivorischen Ensemble gemeinsam mit Knut Klaßen zeigt Gintersdor­fer schon ab heute eine für das Theater Bremen entstanden­e Arbeit. Auch Les Robots ne connaissen­t pas le Blues oder Die Entführung aus dem Serail bearbeitet einen Hochkultur-Klassiker, und erst war Gintersdor­fer skeptisch, da Mozarts als „Türkenoper“bezeichnet­es Opus vor allem von Liebespaar­en handle. „Das ist nicht gerade, was wir bisher gemacht haben. Wir arbeiten eher mit Thesen als mit Beziehunge­n.“Doch hat sie durch Benedikt von Peters Vorschlag, die Liebe als „bürgerlich­es Konstrukt“zu handhaben, einen Zugang gefunden.

Auf formaler Ebene spielt man damit, dass es in Afrika kaum Opernhäuse­r gibt. „Die MozartMusi­k war meiner Gruppe also nicht bekannt, sie hatte keine Vorstellun­g davon und damit ein neues Hören.“Es wurde für das Projekt zudem Musik in anderen Stilen komponiert, die sich diskursiv darauf beziehen. Die Arbeit mit den klassisch ausgebilde­ten Sängern und Musikern (Camerata Salzburg) sei jedenfalls weniger „starr“gewesen als anfangs angenommen. Die Reise erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen.

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Kleider machen Leute, damals im Paris Balzacs wie auch heute.

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