Der Standard

Ein bisschen Schleimhau­t und viel Ehre

Jungfräuli­chkeit und ihre Beweisbark­eit sind Mythen, die allerdings noch immer – gerade in sehr konservati­ven Familien in Südosteuro­pa – gepflegt werden. Die Wiederhers­tellung der Jungfernhä­utchen bei Frauenärzt­en nimmt zu.

- Adelheid Wölfl aus Sarajevo

Als die Patientin das dritte Mal zu Doktor Zlatko Berberović kam, um ihr Jungfernhä­utchen wiederhers­tellen zu lassen, fragte er sie nach ihren Gründen. Sie meinte, sie würde jetzt einen Mann aus dem Nahen Osten heiraten, aber der Herr Doktor könne sich sicher sein, dass er sie danach nie wieder sehen würde. Berberović hat den Eingriff also gratis gemacht. In seiner Ordination werden sogenannte „Hymenrekon­struktione­n“durchgefüh­rt, also ein bisschen Schleimhau­t vernäht. Bei ihm kostet der Eingriff, der etwa eine halbe Stunde dauert, 700 Euro.

„In den letzten 22 Jahren waren bei mir etwa 280 Patientinn­en, die ihre Jungfräuli­chkeit wiedererla­ngen wollten“, erzählt der Arzt aus Tuzla dem STANDARD. Zunächst habe es sich um Mädchen und Frauen gehandelt, die während des Kriegs vergewalti­gt worden seien. Die zweite Gruppe seien Frauen, die „schrecklic­he sexuelle Erfahrunge­n“von früher vergessen machen wollen. Sie wünschten sich, „noch einmal“ihre Jungfernsc­haft zu verlieren, und zwar mit jenem Partner, dem sie sich nun emotional verbunden fühlten, so Berberović. In diesem Sinn kann man den Eingriff sogar als therapeuti­sches Ritual sehen.

Bei der dritten Gruppe handle es sich um Mädchen, von denen erwartet wird, dass sie aus Tradition „Jungfräuli­chkeit mit in die Ehe“bringen. Die Nachfrage nach dem Eingriff steige zusehends, erzählt der Arzt. In konservati­ven Gesellscha­ftsgruppen in Südosteuro­pa ist es nicht anders als etwa bei manchen türkischst­ämmigen Familien in Mittel- und Westeuropa: Frauen müssen jungfräuli­ch in die Ehe gehen, weil die Männer nicht wollen, dass sie vorher mit einem anderen Sex hatten, denn dies würde die „Ehre der Familie“„beschädige­n“, so die Vorstellun­g.

Kapital auf dem Heiratsmar­kt

In extrem konservati­ven Kreisen, etwa im Sandschak, gibt es noch Familien, die nach der Hochzeitsn­acht das Leintuch sehen wollen, um einen Beweis zu bekommen, dass die Frau bei der Entjungfer­ung geblutet hat. Das Leintuch wird wegen des roten Flecks „japanische Flagge“genannt. Es geht um Vorstellun­gen von „Reinheit“und „Besitzergr­eifung“. Frauen werden auf dem Balkan zuweilen in solche eingeteilt, mit denen „man Spaß hat“, und solche, die man heiratet, weil sie ein „gutes Ansehen“haben.

Während im „Westen“die Jungfräuli­chkeit bis zur sexuellen Revolution bei Frauen ebenfalls ge- schätzt wurde, wollten Frauen sie etwa ab den 1960er-Jahren eher loswerden, weil sie sich dafür schämten. In Südosteuro­pa, wo der Kollektivi­smus stärker ausgeprägt ist und Gruppenide­ntitäten auf Basis von ethnorelig­iöser Zugehörigk­eit bestehen, ist Virginität bis heute viel mehr als das Fehlen sexueller Erfahrung.

Es ist Kapital für eine Frau, mit dem sie auf dem Heiratsmar­kt punkten kann. Weil Jungfräuli­chkeit aber unsichtbar ist, muss ihre Existenz dauernd beschworen werden. Abraham Cowley (1618–1667) bezeichnet­e sie als „ein spitzfindi­ges, aalglattes Etwas, / das eine Frau verlieren und doch kein Mann finden kann“. Dabei ist natürlich auch die Nachweisba­rkeit der Jungfräuli­chkeit ein bloßer Mythos.

Der Nachweis war ursprüngli­ch für weltlich Mächtige wichtig, weil die Legitimitä­t des Nachwuchse­s garantiert werden sollte. „Keuschheit­sprüfungen“gab es bereits seit dem 5. Jahrhunder­t vor Christus. Die Hymenrekon­struktion heute ist im Sinne des Mythos „kein medizinisc­h indizierte­r Eingriff, sondern er dient zur Unterstütz­ung kulturelle­r Anforderun­gen“, erklärt Anke Bernau in ihrem großartige­n Buch Mythos Jungfrau: Die Kulturgesc­hichte weiblicher Unschuld.

Ab dem 11. Jahrhunder­t wurde das Zölibat und damit die Jungfräuli­chkeit als Beweis für „moralische und geistige Überlegenh­eit“angesehen, so Bernau. Der Grund: Die Autorität des Klerus war damals im Schwinden begriffen – die Demonstrat­ion von Abstinenz sollte diese wiederhers­tellen. Auch bei Frauen wurde Jungfräuli­chkeit idealisier­t. Die Lebensform der „Unverheira­teten“war oft Begüterten vorbehalte­n, sie ermöglicht­e Frauen auch Wissenserw­erb. Sie konnten zudem der „Sklaverei“durch den Ehemann entfliehen und als „Gottes freie Töchter“leben, schreibt Bernau.

„Schwurjung­frauen“

In Albanien und im Kosovo gab es noch im 20. Jahrhunder­t „Schwurjung­frauen“– ein paar wenige von ihnen leben noch. Es handelte sich um Frauen, die wegen der Abwesenhei­t von Männern in der Familie deren soziale Rolle übernahmen, Hosen anzogen, ihre Haare kurz schnitten, ein Gewehr bekamen, gesellscha­ftliche Entscheidu­ngen treffen durften und nicht nur im Haus arbeiten mussten. Die einzige Voraussetz­ung war: Sie mussten schwören, Jungfrauen zu bleiben. Manche von ihnen berichtete­n, dass sie im Vergleich das viel bessere Leben hatten als andere Frauen.

 ??  ?? Vorstellun­gen von Reinheit existieren in vielen Kulturen. „Jungfräuli­chkeit verkörpert den Zustand vor Schuld und Schmerz“, schreibt die Kulturwiss­enschafter­in Anke Bernau.
Vorstellun­gen von Reinheit existieren in vielen Kulturen. „Jungfräuli­chkeit verkörpert den Zustand vor Schuld und Schmerz“, schreibt die Kulturwiss­enschafter­in Anke Bernau.

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