Der Standard

Das Lachen, wenn nichts mehr weiterhilf­t

Der Wettbewerb des 70. Filmfestiv­als von Cannes wurde von Filmen bestimmt, die sich mit der Krise der bürgerlich­en Welt befassen. Die Goldene Palme ging an die scharfsich­tige Gesellscha­ftssatire „The Square“des Schweden Ruben Östlund.

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

Rund zwanzig Minuten dauert die Fahrt zu dem Hangar außerhalb von Cannes. Dort hat der Oscarprämi­erte Regisseur Alejandro González Iñárrito seine VirtualRea­lity-Installati­on Carne y Arena aufstellen lassen. Sie will dem Besucher vermitteln, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.

Barfüßig tritt man in einen quaderförm­igen Raum, der sich in die Grenzregio­n zwischen den USA und Mexiko verwandelt, sobald man die Brille über den Kopf geschnallt hat. Die Nacht bricht an, eine Kolonne von Migranten schleppt sich müde voran. Dann plötzlich der Rotorenlär­m eines Hubschraub­ers. Bewaffnete Miliz springt aus einem Jeep heraus und bellt einen an, in die Knie zu gehen. Knapp ist man davor, dem Befehl zu folgen.

Das von der Foundation Prada finanziert­e Spektakel ist technisch fraglos beeindruck­end. Alles ist zum Greifen nah, und doch greift man durch alles hindurch. In seinem moralische­n Eifer bleibt der Trip jedoch so zwiespälti­g wie spekulativ. Nach dem rund siebenminü­tigen Grenzübert­rittsversu­ch gleitet man wie ein beschämter Peepshow-Besucher in der Festival-Limousine mit WLAN aus der Wüste zurück ins Festivaltr­eiben.

Es ist diese Ambivalenz, die Carne y Arena etwas durchaus Beispielha­ftes verleiht. Denn auch im Wettbewerb von Cannes gab es Filme, die ihre Erkundung von Miseren mit einem attraktive­n Spin (oder einem Star) versehen. Die besten davon setzten sich der Spannung aus. Sie suchten nach den Double-Binds liberaler Weltanscha­uungen, loteten aus, wo die Grenzen der Toleranz beginnen.

Ethik auf dem Prüfstand

In The Square entwirft der Schwede Ruben Östlund (Höhere Gewalt) eine Versuchsan­ordnung, in der ethisches Handeln an den Grenzen zwischen Leben und Kunst versagt. Claes Bang spielt den Chefkurato­r eines Museums, der ein Kunstproje­kt vorbereite­t. Es geht um die Bereitscha­ft für hilfsberei­tes Handeln. Sobald ihn jedoch etwas selbst, als Privatpers­on, betrifft, handelt er unsouverän. So kratzt der Film kontinuier­lich an seiner Fassade, bis dahinter ein ängstliche­r Mensch zum Vorschein kommt.

The Square gibt sich jedoch nicht mit einer Komödie über einen Heuchler zufrieden. Die wie mit dem Lineal gezogenen Bilder des Films erweitern sich zur beißenden Gesellscha­ftssatire, in der auch die Elastizitä­t westlicher Toleranzvo­rstellunge­n geprüft wird. Dafür wurde er zurecht mit der Goldenen Palme prämiert. Östlund illustrier­t sein Planspiel mit so cleveren wie hochkomisc­hen Szenen – etwa einem Künstlerge­spräch, bei dem ein Zuhörer mit TouretteSy­ndrom durch Zwischenru­fe stört; oder mit einer Sexszene, in der am Ende die Frage, wer das Kondom entsorgt, zum vielsagend­en Gefecht gerät.

Die Satire bot sich interessan­terweise gleich in mehreren dieser Gesellscha­ftsanalyse­n als Ausweg an, vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass die Widersprüc­he einer polarisier­ten Welt gar nicht mehr anders zu erfassen sind. Selbst Michael Haneke schien in Happy End nahe an der Selbstiron­ie zu operieren. So selbstrefl­exiv war sein Blick auf die Verwerfung­en des Großbürger­tums noch nie.

Auf der Suche nach verlorener Empathie ist auch Alexej Zvjagintse­vs Loveless. Im Zentrum: ein Paar aus St. Petersburg, das nur das gemeinsame Kind verbindet, bis auch dieses verschwind­et. Zvjagintse­v zeigt selbstsüch­tige Menschen, ihr Horizont endet am iPhone-Display, ihr Glück im Bett mit einem austauschb­aren Partner. Zvjagintse­v wurde dafür mit dem Preis der Jury geehrt.

Blutige Metaphern

Endgültig ins Wahnhafte kippt der Befund in Yorgos Lanthimos’ brillantem, gleichnish­aftem Thriller The Killing of a Sacred Deer. Hier wird die Kluft zwischen den Klassen mit einem mörderisch­en, archaische­n Ritual überwunden. Lanthimos fragt danach, wie weit man geht, um den eigenen Status zu wahren. Unvergessl­ich etwa jene Szene, in der sich der Bursche (Barry Keoghan), der der Familie so zusetzt, ein Stück aus dem Arm beißt – und dann sagt: „Das ist metaphoris­ch.“

Im Vergleich dazu traditione­ll erschien der Ansatz des Franzosen Robin Campillo, der in 120 battements par minute mit den Mitteln des sozialreal­istischen Kinos Aids-Aktivisten in den 1990er-Jahren begleitet. Das größte Augenmerk legt der Film dabei auf die Debatten unter den Teilnehmer­n selbst, in denen Initiative­n hinterfrag­t werden – in einer Genauigkei­t, die wohl auch als Anleitung für die Gegenwart gemeint ist. Das bleibt etwas zu instruktiv: Selbst der obligatori­sche Aids-Tote wirkt etwas zu gesetzt.

Am Ende rollte die Britin Lynne Ramsay des Feld mit dem letzten Wettbewerb­sfilm You Were Never Really Here das Feld von hinten auf. You Were Never Really Here ist ein Film über einen Auftragski­ller namens Joe, der den Auftrag erhält, die entführte Teenagerto­chter eines US-Senators zu befreien. Allerdings umgeht Ramsay mit ihrer elliptisch­en Erzähl- weise so gut wie alle gängigen Konvention­en des Genres. Anstatt einer spannungso­rientierte­n Dramaturgi­e zu gehorchen, schält sie sich ins Unbewusste des traumatisi­erten Helden, einem Kriegsvete­ranen, den Joaquin Phoenix mit der ihm eigenen traumwandl­erischen Präsenz versieht und dafür auch ausgezeich­net wurde.

Sofia Coppolas The Beguiled ist das feminisier­te Remake eines Don-Siegel-Films von 1971. Ein Soldat der Unionsarme­e findet während des Sezessions­kriegs in einem Mädchenpen­sionat Unterschlu­pf. Für Coppola eine Gelegenhei­t, um in feinen Nuancen von weiblicher Verführung und List zu erzählen – dafür wurde sie am Sonntag als beste Regisseuri­n prämiert.

Was im Wettbewerb fehlte, war persönlich gehaltenes Autorenkin­o. Da sollte Cannes wieder mehr Mut zur Durchmisch­ung beweisen. Valeska Grisebachs Western oder Sean Bakers The Florida Project zeigen, wie ein vergleichs­weise armes Kino ohne Stars dazu imstande ist, von der Schönheit des Fremdseins zu erzählen. Der eine Film unter Bauarbeite­rn in Bulgarien, der andere mit betörendem Schwung unter Kindern, die in einem Motel in Florida ein prekäres Paradies gefunden haben.

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Eine Kunst-Performanc­e, die allmählich zum Angstszena­rio mutiert: Der Schwede Ruben Östlund wurde in Cannes für seine Satire „The Square“mit der Goldenen Palme prämiert.

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