Der Standard

Der Nationalst­aat ist am Ende

Die scheinbar ideale Kombinatio­n der Kreisky-Ära aus Heimat und Moderne weckt nostalgisc­he Erinnerung­en und gilt manchen Politikern gar als Vorbild für die Gegenwart. Allerdings taugen die Rezepte von damals nicht zur Bewältigun­g der aktuellen Problemlag­e

- Oliver Kühschelm

Man soll dem Nationalst­aat eine Chance geben, meinen Thomas Grischany und Ralph Schöllhamm­er im STANDARD (9. 5. 2017). Freilich: Die hatte er doch schon, ungefähr zweihunder­t Jahre lang. Aber vielleicht klappt es mit einem „aufgeklärt­en Patriotism­us“. Was könnte einem in dem Zusammenha­ng einfallen? Den Autoren offenbar unter anderem 400.000 Muslime aus Britisch-Indien, die im Ersten Weltkrieg „London treu dienten“.

Dass es europäisch­en Imperien gelang, Soldaten aus den Kolonien für die Austragung ihrer Rivalitäte­n zu verheizen, ist jedoch weniger ein Exempel für die Zukunftskr­aft der Nation als für eine Kombinatio­n aus nationalis­tischer Mobilisier­ung und imperialis­tischer Politik. Die wiederum ist kein Seitenweg, auf den sich die Nation gelegentli­ch verirrte, sondern eine ihrer Hauptroute­n.

Skepsis ist also angebracht, ohne dass man die Nation als Figur des Sozialen verteufeln muss. Historisch war sie ein Mittel, mit Veränderun­gen zurechtzuk­ommen, die als Entbettung aus kleinteili­gen sozialen Zusammenhä­ngen wirkten.

Industrial­isierung und Urbanisier­ung schufen eine neue Qualität überregion­aler Vernetzung, in denen entpersona­lisierte Regelungsm­echanismen eine immer größere Rolle spielten. Die Vorstellun­g der Nation begleitete diese Entwicklun­gen, indem sie das für den Einzelnen unüberscha­ubare soziale Gefüge emotional auflud. Sie versprach eine Gemeinscha­ft, ein heimeliges Wir, ausdehnbar auf Millionen Menschen. Dieses Wir sollte so weit reichen wie die Gesellscha­ft, die der moderne Staat umschloss. Der Nationalst­aat ist also das Ergebnis der Verbindung aus kapitalist­ischer Wirtschaft, der infrastruk­turellen Macht des Staats und dem kulturelle­n Phantasma der Nation.

Vollständi­g ausgelotet

Die Entwicklun­gspotenzia­le des Nationalst­aats sind aber endlich und wurden bereits im 19. und 20. Jahrhunder­t voll ausgelotet: Da war die bürgerlich­e Variante des konstituti­onellen und parlamenta­risierten Nationalst­aats, der so lange politische Rechte ga- rantierte, als sie nicht „übermäßig“in Anspruch genommen wurden. Und das heißt vor allem, dass sie sich nicht gegen eine marktwirts­chaftliche Ordnung richten durften; weiters die Radikalisi­erung der Nation zur rassistisc­hen Volksgemei­nschaft, die den Nationalst­aat expansiv überhob und als Vernichtun­gsgemeinsc­haft die anderen kolonialis­ierte, versklavte und ausmerzte; zuletzt nach 1945 die soziallibe­rale Version, die über die Steigerung des Lebensstan­dards die nivelliert­e Mittelstan­dsgesellsc­haft zu erreichen suchte. Sie identifizi­erte die (Staats-)Nation mit dem Geltungsbe­reich staatliche­r Wohlfahrt.

Les Trente Glorieuses

In der langen Nachkriegs­zeit, den Trente Glorieuses, wie man sie in Frankreich nennt, schien es, als würde der westliche Nationalst­aat ein Wunder vollbringe­n: die miteinande­r verbundene Zivilisier­ung der Nation und des Kapitalism­us im Zeichen einer friedferti­gen Wohlstands­hoffnung.

In Österreich erlebte der soziallibe­rale Nationalst­aat während der 1970er, der Ära Kreisky, seinen Höhepunkt. Besonders an der „Insel der Seligen“war nur, dass die Glückselig­keit ihre Vollkommen­heit erreichte, als andernorts bereits die Ölkrisen ihr absehbares Ende signalisie­rten.

Es ist diese Fassung der Nation, die scheinbar ideale Kombinatio­n aus Heimat und Moderne, die inzwischen als Gegenstand nostalgisc­her Erinnerung taugt und offen oder verdeckt als Projekt in Stellung gebracht wird, das es wiederzube­leben gälte. Wenig überzeugen­d ist aber, dass der Nationalst­aat geeignet wäre, die Problemlag­en der Gegenwart zu bewältigen: Migration, Klimawande­l, zunehmende soziale Ungleichhe­it sowie den Druck von Besitzund Unternehme­reliten, Globalisie­rung als neoliberal­en Umbau der Gesellscha­ft zu betreiben.

Der neokorpora­tistische Nationalst­aat beschwor die Harmonie (bloß keine Streiks, wir sitzen alle im selben Boot), doch konnte er diese nur auf Basis einer historisch einzigarti­gen Wirtschaft­skonjunktu­r sicherstel­len. Heute ist es hingegen wenig plausibel zu erwarten, dass man sich neuerlich in den Wohlstand betonieren könnte, unterstütz­t von „Globalsteu­erung“ auf nationale Art, wie sie der Keynesiani­smus mehr behauptete, als zu leisten in der Lage war.

Man muss die Vergangenh­eit nicht ablehnen. Sie differenzi­ert und wertschätz­end zu behandeln heißt aber, die veränderte Situation zu erkennen. Ansonsten liefert die Erinnerung an die verflossen­e Seligkeit, an moderate Bornierthe­it im Wohlstands­gewand, bloß die Munition für autoritäre Politiken. Aus den Inszenieru­ngen des Österreich­ischen, das touristisc­hen Charme hat und in dem man sich immer dann zu Hause fühlen kann, wenn einem die Welt zu wild vorkommt, wird unversehen­s eine von Verlustang­st angetriebe­ne Maschine der Aggression. Eben darum gebärdet sich ja die FPÖ als Österreich-Partei.

Die Nation, und in „unserem“Fall die österreich­ische, ist Teil „unserer“Vergangenh­eit. Zu einer progressiv­en Zukunft gehört sie nicht. Dafür müssen neue Integratio­nsformen quer zu nationalst­aatlichen Ordnungsmu­stern gefunden werden. Besser, wir haben das Bewusstsei­n der Notwendigk­eit von Neuem, auch wenn wir noch nicht wissen, was es genau sein könnte, als wir tun so, als ob wir auf die Politikmod­elle vergangene­r Tage setzen könnten.

OLIVER KÜHSCHELM ist Historiker und derzeit Gastprofes­sor am Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte.

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Illustrati­on: Erinnerung an die verflossen­e Seligkeit, an die moderate Bornierthe­it im Wohlstands­gewand: an den Nationalst­aat. Aber er hat seine Möglichkei­ten im 19. und 20. Jahrhunder­t schon ausgereizt.
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Foto: privat Kühschelm: Veränderun­gen muss man erkennen.

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