Der Standard

Merkel, Trump und das „Ende einer Ära“

US-Experten in Sorge wegen Äußerungen der deutschen Kanzlerin über Nato-Zukunft

- Frank Herrmann aus Washington

Von einem Schock ist die Rede, von einem Wendepunkt. Unter denen, die sich nach Angela Merkels Äußerungen über den „nicht mehr verlässlic­hen“US-Verbündete­n zu Wort meldeten, gab es kaum einen, der nicht daran erinnert hätte, wie gerade auch die Amerikaner die Nato lange Zeit definierte­n: nämlich mit den Worten des britischen Lords Hastings Lionel Ismay, des ersten Generalsek­retärs der Allianz: Die Russen draußen halten, die Amerikaner drin und die Deutschen am Boden – darin bestehe aus (west-)europäisch­er Sicht der Sinn dieses Pakts.

Und jetzt, schreibt die Washington Post, gebe die deutsche Kanzlerin zu verstehen, dass die Amerikaner nicht mehr wirklich drin seien. Und dass, in logischer Konsequenz, Deutschlan­d und Europa eine unabhängig­ere Rolle spielen müssten, als sie es in 70 Jahren getan hätten. „Das ist ein enormer Wandel in der politische­n Rhetorik“, kommentier­t das Blatt, auch wenn man einrechnen müsse, dass sich Merkel mit Blick auf die anstehende Bundestags­wahl in Position bringe. Ernst zu nehmen seien die neuen Töne schon deshalb, weil Merkel bekanntlic­h sehr vorsichtig sei und nicht dazu neige, impulsive Reden zu halten.

Amerikanis­che Politiker hielten sich fürs Erste zurück, was schlicht daran gelegen haben mag, dass das Land den Memorial Day beging. Anders Ivo Daalder, ein früherer Nato-Botschafte­r der USA. „Es scheint das Ende einer Ära zu sein“, zitiert die New York Times den Ex-Diplomaten, der heute einen Thinktank in Chicago leitet, den Council on Global Affairs. Die Vereinigte­n Staaten bewegten sich in eine Richtung, die in diametrale­m Gegensatz zu dem stehe, wohin sich die Europäer bewegten, beobachtet Daalder. Diese neue Realität spiegle sich in Merkels Worten. Während Donald Trump seine Europareis­e via Twitter zu einem großen Erfolg erklärte („Harte Arbeit, aber große Ergebnisse!“), gehört Daalder zu denen, die widersprec­hen.

Kein Interesse an Führung

Ein Präsident, der sich nicht eindeutig zur Beistandsp­flicht innerhalb der Nato bekenne, der Deutschlan­d und andere Verbündete andauernd in Handelsfra­gen herunterpu­tze und sich offenbar vom Pariser Klimaschut­zabkommen verabschie­de: Ein solcher Präsident signalisie­re, dass die USA weniger als je zuvor seit 1945 daran interessie­rt seien, globale Führung zu übernehmen.

„Seit 1945 haben erst die UdSSR und dann Russland versucht, einen Keil zwischen Deutschlan­d und die Vereinigte­n Staaten zu treiben“, twitterte die Kolumnisti­n und Pulitzer-Preisträge­rin Anne Applebaum. „Dank Trump hat Putin es geschafft.“

Cliff Kupchan, Chef der Eurasia Group, eines auf politische Risikoeins­chätzungen spezialisi­erten Beratungsh­auses, spricht vom tiefsten transatlan­tischen Graben der jüngeren Vergangenh­eit – mindestens seit der Irak-Invasion, wenn nicht gar seit dem Zweiten Weltkrieg. Falls etwa das Atomabkomm­en mit dem Iran unter die Räder komme, orakelt Kupchan, sei nicht garantiert, dass sich Europa in einer gefährlich­en Krise an der Seite Trumps wiederfind­e.

Steve Clemons, Washington­er Bürochef der Zeitschrif­t The Atlantic, sieht wiederum eine tektonisch­e Plattenver­schiebung. Sicher werde es Leute geben, die es übertünche­n, sagte Clemons bei einer Talkshow des Nachrichte­nsenders MSNBC. Sicher werde es Leute geben, die nun auf James Mattis hofften, auf Trumps Verteidigu­ngsministe­r, der als bekennende­r Freund der Nato gilt. Darauf, dass der Ex-General den Riss kitte.

Lächerlich­e Goldmedail­len

Doch die ungeschmin­kte Wahrheit sei, dass der Zweifel Einzug gehalten habe im Beziehungs­geflecht der Allianz: „Es wird lange dauern, bis der Schaden repariert ist.” Trumps Strategie, fügte Clemons hinzu, sei unverantwo­rtlich. Es sei einfach lächerlich, nach Saudi-Arabien zu reisen, um sich Goldmedail­len um den Hals hängen zu lassen, und als Nächstes Amerikas Verbündete­n die Zähne auszuschla­gen.

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Foto: AP / Andrew Medichini Merkel sieht in Trump keinen verlässlic­hen Partner mehr.

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