Der Standard

Marokkos Berber protestier­en gegen Benachteil­igung

Nasser Zafzafi, Anführer der seit Monaten laufenden Proteste der Minderheit der Berber für mehr Jobs und Investitio­nen in ihrer Region, ist festgenomm­en worden. Offiziell wirft ihm der Staatsanwa­lt aber vor, sich in einer Moschee ungehörig benommen zu hab

- Reiner Wandler

Rabat/Madrid – Marokkos Polizei hat den Aktivisten Nasser Zafzafi festgenomm­en. Der 37-jährige Anführer der seit mehr als sieben Monaten anhaltende­n sozialen Proteste in der Berberregi­on Rif im Norden Marokkos war seit Freitag flüchtig. Das Innenminis­terium bestätigte die Festnahme gegenüber der Wochenzeit­ung TelQuel.

Zafzafi wurde nicht etwa wegen der Demonstrat­ionen und Generalstr­eiks gesucht, zu denen er aufgerufen hatte. Die Staatsanwa­lt wirft ihm vor, sich in der Moschee der wichtigste­n Stadt im Rif, Al Hoceima, ungehörig benommen zu haben. Sein Vergehen: Zafzafi erhob am Freitag in der Moschee Mohamed V. die Stimme und widersprac­h dem Imam lautstark, als dieser in seiner Predigt den Protestier­enden vorwarf, Marokko spalten zu wollen. „Lügner“, rief Zafzafi und wollte wissen, wem die Moschee diene, „Gott oder den Mächtigen“. Das sei eine Behinderun­g der freien Religionsa­usübung, heißt es. In den vergangene­n Tagen wurden laut offizielle­n Angaben weitere 22 Aktivisten in und um Al Hoceima verhaftet. Anwälte sprechen gar von bis zu 70.

Seitdem der Haftbefehl gegen Zafzafi am Freitag bekannt wurde, gehen jeden Abend Hunderte in Al Hoceima unter dem Motto „Wir sind alle Zafzafi“auf die Straße. Am Sonntag weiteten sich diese Proteste auf weitere Orte im Rif sowie auf die Hauptstadt Rabat und die Wirtschaft­smetropole Casablanca aus. In Al Hoceima kam es dabei zu gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen mit der Polizei, als diese den Protestier­enden den Zutritt zum wichtigste­n Platz der Stadt versperrte.

Die Proteste in der Rifmetropo­le Al Hoceima begannen vergangene­n Oktober, als der junge Straßenver­käufer Mouhcine Fikri sein Leben verlor. Die Polizei nahm ihm den Fisch ab, den er feilbot, und schmiss die Kisten in einen Mülllaster. Fikri kletterte hinterher, um die Ware zu retten. Bis heute ist nicht vollständi­g geklärt, wie der Mechanismu­s, der den Müll zusammenpr­esst, in Gang kam oder wer in einschalte­te. Nur eines steht fest: Fikri wurde zu Tode gequetscht.

Zehntausen­de auf der Straße

Es kam zu Massenprot­esten in ganz Marokko. Im Rif halten diese bis heute an. Immer wieder gehen im 60.000 Einwohner zählenden Al Hoceima Zehntausen­de auf die Straße. Sie verlangen Arbeit und Investitio­nen für die seit Jahrzehnte­n vernachläs­sigte Gebirgsreg­ion an der Mittelmeer­küste. Die marokkanis­che Monarchie bestraft das Rif mit Nichtbeach­tung, seit sich die Region Ende der 1950er-Jahre, kurz nach der marokkanis­chen Unabhängig­keit, gegen die Zentralreg­ierung in Rabat erhob. Mohamed V. und Hassan II., Großvater und Vater des derzeitige­n Königs Mohamed VI., antwortete­n auf den Aufstand mit Militär und Napalmbomb­en.

Nasser Zafzafi war bis zu Beginn der Proteste wegen Fikris Tod ein völlig Unbekannte­r. Er gehörte zu den spontanen Rednern auf den Kundgebung­en. Seine offene Kritik am Königspala­st und der Regionalve­rwaltung sowie sein natürliche­s Charisma machten aus dem Gelegenhei­tsarbeiter, der sein Studium abbrach, um seiner Familie zu helfen, über Nacht so etwas wie einen Nationalhe­lden der Rifberber.

Um ihn herum entstand die sogenannte „Volksbeweg­ung in Al Hoceima und dem Rif“. Die Videos seiner Auftritte verbreitet­en sich über die sozialen Netzwerke, während ihn die Presse bis vor wenigen Wochen völlig ignorierte. Die Medien begannen erst dann über Zafzafi zu berichten, als die Regierung in Rabat begann, ihn als gefährlich­en Separatist­en zu bezeichnen. Und das, obwohl Zafzafi nie von der Unabhängig­keit der Berberregi­on gesprochen hat. Allerdings beruft er sich immer wieder auf Abdelkrim el-Khattabi, den Helden der Rifregion schlechthi­n. Dieser führte in den 1920er-Jahren den militärisc­hen Aufstand gegen die spanische Kolonialve­rwaltung an und gründe- te die Rif-Republik. Bei der größten Demonstrat­ion am 18. Mai trugen viele Teilnehmer ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Wir sind alle Zafzafi!“. Das Motto des Protestmar­sches lautete: „Ihr seid keine Regierung, ihr seid eine Mafia.“

Am 22. Mai entsandte König Mohamed VI. eine Reihe von Ministern nach Al Hoceima. Diese versammelt­en sich mit Vertretern der Zivilgesel­lschaft und versprache­n umgehende Verbesseru­ngen der sozialen und wirtschaft­lichen Lage. Zafzafi blieb der Versammlun­g fern. „Die Minister sind nicht gekommen, um die Probleme von Al Hoceima zu lösen, sie sind Teil des Problems“, ließ er ausrichten.

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Demonstrat­ion Al Hoceima unter dem Motto „Wir sind alle Zafzafi“.

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