Der Standard

Die Rebellion im tropischen Schwarzwal­d

Im Zuge der Proteste in Venezuela stellte sich auch Colonia Tovar gegen die Regierung. Es waren die ersten Demonstrat­ionen in der von Deutschen gegründete­n Gemeinde. Besuch in einem Geisterdor­f.

- Sandra Weiss aus Colonia Tovar

REPORTAGE: Alle hatten einen guten Grund, auf die Barrikaden zu gehen an diesem schwülen Tag im tropischen Schwarzwal­d. Carlos hatten sie einige Wochen zuvor das Motorrad geklaut, und wegen der Wirtschaft­skrise hatte er seinen Job verloren. Ruben gaben sie seit einem Monat kein Mehl mehr für seine Bäckerei. Im ganzen Dorf gab es deshalb kein Brot. Bei Alejandro hatten sie eingebroch­en.

Marilin bekam seit Monaten keine Medikament­e mehr für ihren unter Arthritis leidenden Mann. Gregorio war ohne Dünger und Pestizide für seine Avocadound Pfirsichbä­ume und hatte 60 Prozent seiner Ernte verloren. Adriana musste mit ansehen, wie sechs ihrer Cousins und Cousinen Venezuela den Rücken kehrten und eine zerrissene Familie zurückließ­en.

Die Wunden, die 18 Jahre Sozialismu­s in der deutschen Siedlung Colonia Tovar rund eineinhalb Stunden außerhalb der Hauptstadt Caracas hinterlass­en haben, sind tief. Trotzdem überwog immer ein Gefühl der Dankbarkei­t für Venezuela; ein Land, das die Urväter großzügig aufgenomme­n und den Enkeln und Urenkeln Wohlstand gebracht hatte.

Bis zu diesem einen Freitag vor einer Woche. „Wir hörten, dass die Regierung hier auf dem Platz eine Versammlun­g einberufen hatte, auf der das Volk eine neue Verfassung absegnen sollte“, erzählt der 25-jährige Carlos. Ihm platzte der Kragen.

Per Whatsapp koordinier­te er den Widerstand mit einer Gruppe von Freunden und Bekannten. Ruck, zuck waren über 100 Leute beisammen, die die Zufahrten mit Autoreifen, Stöcken und Unrat blockierte­n. Andere umlagerten das Rathaus, in dem der sozialisti­sche Bürgermeis­ter und sein Gemeindera­t tagten – ein Team, das in der eigenen Suppe kochte und sich nie Zeit nahm für die Sorgen der Bürger.

Die ersten Proteste

Carlos und seine Freunde hatten keinerlei Erfahrung mit politische­m Aktivismus, es war der erste Protest in ihrem Leben. Doch dann tauchten ein paar Vermummte auf – bis heute weiß keiner genau, woher sie kamen und wer sie waren – und sofort brannten die Barrikaden, die Schutzhütt­e der Nationalpa­rkverwaltu­ng und alte Schrottaut­os, die davor abgestellt waren.

„Niemals hat es hier etwas Vergleichb­ares gegeben“, sagt Carlos, immer noch ein wenig erschrocke­n von seinem eigenen Mut. Zwei Stunden später waren zwei Hundertsch­aften der Nationalga­rde vor Ort. „Sie gaben uns zehn Minuten Zeit, die Straße zu räumen, und nach fünf Minuten flogen die ersten Gummigesch­oße und Tränengasb­omben“, erzählt der Maurer. Erschrocke­n flohen die Jugendlich­en in die Felder und versteckte­n sich in Schuppen.

Doch die Nationalga­rde begann eine regelrecht­e Menschenja­gd, erzählen Einwohner der Gemeinde. 16 junge Leute wurden an diesem Tag festgenomm­en. „Manche hatten mit den Protesten gar nichts zu tun“, erzählt die 32-jährige Adriana.

Ihrer ebenfalls festgenomm­enen Freundin legten die Polizisten Handschell­en an, warfen sie in eine Zelle und erklärten ihr, sie sei umgeben von Dieben und Drogendeal­ern, aber diese würden ganz sicher eher freigespro­chen als eine Demonstran­tin. „Das Klo bestand aus einem Haufen Zeitungen in einer Ecke“, erzählt die Buchhalter­in schaudernd.

Daraufhin trat das ganze Dorf in den Ausstand. „Eine Woche lang öffnete kein Laden, kein Restau- rant und kein Hotel, und die Bauern weigerten sich, ihre Ernte zu verkaufen“, erzählt Gregorio Kanzler. „So etwas habe ich in meinen 58 Jahren noch nie erlebt.“

Der Streik zog die umliegende­n Orte, die ihre Nahrungsmi­ttel aus der 20.000 Einwohner zählenden Colonia Tovar beziehen, in Mitleidens­chaft. Zehn der Festgenomm­enen wurden inzwischen auf Vermittlun­g der Kirche wieder freigelass­en, stehen aber unter Hausarrest. Und dem Rest der Bevölkerun­g sitzt die Angst in den Knochen. „Ich gehe fast nicht mehr aus dem Haus“, sagt die Souvenirhä­ndlerin Marilin Rudman. Sie fürchtet Plünderung­en, ihr Laden reicht gerade so zum Überleben, und ihre Angestellt­en hat sie bis auf zwei gelegentli­che Aushilfskr­äfte entlassen müssen.

Die Episode hat den Tourismus, der ohnehin schon wegen der Wirtschaft­skrise auf Sparflamme lief, weiter einbrechen lassen. „Die Besucherza­hlen sind in den vergangene­n drei Jahren um 80 Prozent zurückgega­ngen“, sagt Gregorio Kanzler. „Einst waren wir der Ort mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Venezuela. Jetzt siehst du, wie Menschen Essensrest­e aus dem Müll klauben.“An diesem Samstag sind selbst etablierte Restau- rants und Hotels wie „Muhstall“und „Frankfurt“leer. Nur eine Handvoll Touristen schlendert durch die Gassen, knipst die Fachwerkhä­user und kauft Obst und Gemüse an den Ständen.

Ähnlich hoch sind die Einbußen bei der Landwirtsc­haft, dem zweiten wirtschaft­lichen Standbein der Kolonie deutscher Auswandere­r aus dem Kaiserstuh­l. Die Verteilung von Samen, Dünger und Pestiziden liegt in der Hand des Staatskonz­erns Agropatria. Immer wieder schaut Kanzler vorbei. Doch fast immer sind die Auslagen leer, und wenn es gerade etwas gibt, verlangen die Angestellt­en dafür ein horrendes Schmiergel­d. „Wir kamen 1842 auf Einladung der Regierung hierher, um der venezolani­schen Landwirtsc­haft nach dem verheerend­en Befreiungs­krieg auf die Beine zu helfen“, erzählt er.

Ich werde nicht lockerlass­en, bis diese Verbrecher weg sind und Colonia Tovar wieder das Dorf ist, das ich so geliebt habe.

Fünf Generation­en

Fünf Generation­en später setzt eine andere Regierung alles daran, das Erreichte zunichtezu­machen. „Wir haben zu lange passiv zugesehen“, sagt Kanzler selbstkrit­isch. Die Jugendlich­en haben nun aber die Nase voll. Im Schoß der Kirche haben sie bereits wieder erste Friedensmä­rsche und Mahnwachen für die Opfer der Repression veranstalt­et. „Ich will Wahlen und werde nicht lockerlass­en, bis diese Verbrecher weg sind und Colonia Tovar wieder das Dorf ist, das ich mit 13 Jahren so geliebt habe“, sagt Carlos.

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Ruben Perdomo vor seiner geschlosse­nen Bäckerei: Nach den Ausschreit­ungen in der Gemeinde rückte die Armee ein.

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