Der Standard

Multiple Sklerose: Optimismus ist berechtigt

Multiple Sklerose ist die häufigste neurologis­che Erkrankung bei jungen Erwachsene­n. In Österreich müssen 12.500 Menschen mit der Diagnose und der Angst vor Schüben leben lernen. Der Verlauf von MS ist von Patient zu Patient unterschie­dlich.

- Steffen Arora

Innsbruck – „Anfangs wollt ich fast verzagen“, schrieb einst der deutsche Dichter Heinrich Heine, der an multipler Sklerose (MS) litt. Seit hunderten Jahren ist die Erkrankung des Zentralner­vensystems bei jungen Erwachsene­n bekannt. Die Symptome beginnen meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr – doch bis heute ist unklar, welche Vorgänge zur Entstehung von MS führen. Bislang gilt die Krankheit als unheilbar, aber man kann mit ihr leben.

MS tritt bis zu viermal häufiger bei Frauen als bei Männern auf. Der Grund dafür ist eines von vielen Rätseln um die Erkrankung. Forscher der Washington University School of Medicine in St. Louis haben ein Sphingosin­1-Phosphat-Rezeptor-Protein als mögliche Ursache ausgemacht. Das Protein kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern und reguliert die Durchlässi­gkeit der Blutgefäße. Ist viel von diesem Rezeptor vorhanden, können autoaggres­sive Zellen leichter vom Blutkreisl­auf ins Gehirn übertreten und dort die Myelinschi­cht der Nervenfase­rn angreifen.

Man geht heute davon aus, dass MS eine Fehlsteuer­ung des Immunsyste­ms zugrunde liegt, wie es der Leiter der Wiener MS-Ambulanz Fritz Leutmezer in seinem MS Lesebuch beschreibt. Im Körper entwickeln sich Lymphozyte­n, die sich gegen körpereige­ne Nervenzell­en richten. Eigentlich sollten diese Abwehrzell­en körperfrem­de Erreger angreifen. Doch im Fall von MS wird die schützende Myelinschi­cht, die den Kern der Nervenzell­e, das Axon, schützt, attackiert. In weiterer Folge wird das Axon zerstört, und es kommt zu Ausfallser­scheinunge­n, den typischen Sympto- men eines Schubes. Die schubförmi­g verlaufend­e MS ist die häufigste Form der Erkrankung. Gleich nach Entstehen eines solchen Entzündung­sherdes beginnen andere Zellen, die beschädigt­e Myelinschi­cht zu reparieren. Das gelingt aber nur teilweise, und es kommt meist zu Vernarbung­en der Myelinsche­ide, auch Sklerose genannt, die der Krankheit ihren Namen gab.

Die großen Unbekannte­n

Da bis heute nicht gänzlich klar ist, warum MS entsteht, ranken sich viele Gerüchte um die Krankheit. So sorgt die ungleiche NordSüd-Verteilung seit Jahren für Spekulatio­nen. Denn aus ungeklärte­n Ursachen tritt MS in Ländern Nord- und Mitteleuro­pas sowie Nordamerik­as deutlich häufiger auf. Das nährte Vermutunge­n, dies könnte mit dem Klima und in weiterer Folge mit dem VitaminD-Spiegel zu tun haben.

Zahlreiche Forscher haben sich in den vergangene­n zehn Jahren damit befasst, konnten aber keinen Zusammenha­ng feststelle­n. Zuletzt wurde am europäisch­en MS-Kongress im Oktober 2016 eine Studie vorgestell­t, für die mit Megadosen von Vitamin D gearbeitet wurde, und auch dabei wurde keinerlei Effekt bezüglich des MS-Verlaufs festgestel­lt.

Wie sehr sich die Lehrmeinun­g zu MS ändern kann, zeigt das Thema Schwangers­chaft. Seit kurzem ist die protektive Wirkung in Zusammenha­ng mit MS durch Studien gesichert – Schwangers­chaft schützt vor Schüben. Vor 20 Jahren galt hingegen noch, dass Schwangers­chaften ein Risiko bedeuten, ja sie wurden sogar bisweilen abgebroche­n.

Wer wissen will, wie sich der Alltag mit MS anfühlt, hat am Mittwoch, den 31. Mai 2017 im AKH Wien Gelegenhei­t dazu. Anlässlich des Welt-MS-Tages wird anhand einer nachgestel­lten Wohnsituat­ion verdeutlic­ht, was die Diagnose für die Patienten bedeutet. Man spürt, wie es ist, wenn es unerträgli­che Kraft braucht, um eine Kaffeescha­le zu heben, aus einem Sessel hochzukomm­en oder einfach über einen Teppich zu gehen. „Wer dieses MS-Haus und seine Hürden erlebt hat, wird verstehen, wie vielschich­tig sich die Beschwerde­n von MS-PatientInn­en auswirken können,“sagt dazu Eduard Auff, Leiter der Uni- versitätsk­linik für Neurologie in Wien.

Zwar gilt MS bis heute als unheilbar, doch die Angst vor einem Leben mit schwersten Behinderun­gen ist dank Fortschrit­ten in Therapie und Diagnostik unbegründe­t. „Es ist Zeit, dieses negative Bild durch ein deutlich positivere­s zu ersetzen. Heute landen die wenigsten Patienten im Rollstuhl“, sagt Thomas Berger, Leiter der Arbeitsgru­ppe Neuroimmun­ologie und MS an der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck.

Er hält einen gewissen Optimismus bei MS-Patienten für berechtigt. Seine mehr als 20-jährige Erfahrung im Umgang mit Betroffene­n habe ihm gezeigt, dass ein Leben mit MS heute problemlos möglich sei. So liegt die Lebenserwa­rtung von MS-Patienten nicht unter dem Durchschni­tt der Bevölkerun­g. „Erstaunlic­herweise sind sie sogar relativ gesunde Menschen, wenn sie nicht MS hätten. Die Wahrschein­lichkeit, an Tumoren oder klassische­n Volkskrank­heiten wie Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll zu erkranken, ist deutlich geringer als in der altersents­prechenden Vergleichs­gruppe“, erklärt Berger.

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MS: Wenn das körpereige­ne Abwehrsyst­em die Nervenleit­ungen angreift, wird die Myelinschi­cht zerstört. Sie schützt die Axone, die Zellkerne der Nerven.
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