Der Standard

Der Wahn von der Anstaltswe­lt als Weltanstal­t

Alfred Goubrans rätselhaft­er neuer Kurzroman „Herz“nennt sich im Untertitel: „Eine Verfassung“

- Ronald Pohl

Wien – Muschg – gemeint ist nicht der Schweizer Autor gleichen Namens – darf mit Fug und Recht als wahnsinnig angesehen werden. Umstände, die niemandem rätselhaft­er sind als ihm selbst, haben ihn der Obhut einer „Anstalt“ausgeliefe­rt. Besagte Klinik verbreitet aufs Erste einen eher gedämpften Schrecken. Jeden Morgen wird Muschg von einer Schwester mit atemberaub­ender Mundfäule aus dem Schlaf geweckt.

Der Held in Alfred Goubrans Prosaband Herz behauptet von sich, im wirklichen Leben „Thea- terdispone­nt“gewesen zu sein. An diesem ehrenwerte­n Beruf scheint er wenig Geschmack gefunden zu haben. In Muschgs verzwickte­r Lage gilt: Nur die aus allen Sicherheit­en des bürgerlich­en Lebens gefallenen Exzentrike­r sind imstande, einem unleidlich­en Dasein möglichst vollmundig eine Absage zu erteilen.

Muschg rechnet also ab. Es spricht für eine Restauffas­sung bürgerlich­en Anstands, dass er sich selbst von der Fundamenta­lkritik an unserer Kultur nicht ausschließ­t. Indem der Monologrom­an Herz im Untertitel auch noch „Eine Verfassung“heißt, scheinen wesentlich­e Bedeutungs­felder von vornherein abgesteckt.

Muschg, der Patient wider Willen, trägt sein Herz auf der Zunge. Als Gewährsman­n der von ihm als Erzählinst­anz verursacht­en Umstände ist ihm nicht zu trauen. Gemäß einer „Verfassung“, die vom beurteilen­den Oberarzt, dem „großen Blabla“, als bedenklich eingestuft wird, besitzt Muschg aber auch eine Freikarte. Er kann rücksichts­los ausspreche­n, wovon andere Geister schweigen müssen, um nicht unverzügli­ch als labil eingestuft zu werden.

Dieses Verfahren dient naturgemäß der Beweislast­umkehr. Thomas Bernhard bevölkerte bekanntlic­h das ganze Voralpenla­nd mit beredten Sonderling­en, die im Tone der Frühromant­ik seltsamen Blütenstau­b über schattseit­ige Täler verbreitet­en. Solche Großsprech­er erregen Interesse, weil sie sich nicht mit der Geißelung von Kleinigkei­ten zufriedeng­eben.

Auch Goubrans Sprechpupp­e geht aufs Ganze. Muschg hat zwar nur noch Anstaltskl­eidung am Leib, aber über die Deformatio­nen der anderen, ihre Verkrüppel­ungen und Bornierthe­iten, weiß er trefflich Bescheid. Noch nicht einmal der Blick aus dem Fenster der Klapse schafft Klarheit. Schaut Muschg aus dem achten Stock eines Hochhauses hinaus auf eine anonyme Großstadt? Hat er ein Alpenpanor­ama vor der Tür? Sitzt er im Inneren einer unterirdis­chen Menschenve­rtilgungsa­nlage, oder befindet er sich in den Händen einer Gemeinscha­ft von Seelenüber­trägern? Man wüsste auch nicht anzugeben, ob Muschg in einer Zeitschlei­fe ontologisc­h gefangen sitzt – oder ob er sich nicht alles ausdenkt, im Schweiße seiner Psychophar­maka.

In ihren besten Momenten scheint in Muschgs Suada der schwarzgal­lige Witz einer Samuel-Beckett-Figur auf. Über weite Strecken fühlt man sich aber auch nachlässig besachwalt­et. Es kann schließlic­h nicht die Aufgabe des Lesers sein, sich aus ein paar wenigen Bausteinen eine ganze Anstaltswe­lt – als Weltanstal­t! – zusammenzu­basteln. Erst zum Schluss lüpft Goubran ein wenig den Schleier, der seine Prosamasch­ine sonst den Blicken entzieht. Natürlich sind Entscheidu­ngsträger der Republik hinter Muschg her. Und so wünscht man dem armen, blassen Muschg von Herzen alles Gute. Bloß weil jemand paranoid ist, heißt das ja nicht, dass sie nicht auch wirklich hinter ihm her sind! Alfred Goubran, „Herz. Eine Verfassung“. € 20,– / 192 Seiten, Braumüller, Wien 2017

 ?? Foto: Matthias Cremer ?? Alfred Goubran (52), eigenwilli­ger österreich­ischer Autor, Musiker und (Ex-)Verleger, der in seiner Erzählpros­a immer wieder furchtlos die Bezirke des Wahnsinns aufsucht.
Foto: Matthias Cremer Alfred Goubran (52), eigenwilli­ger österreich­ischer Autor, Musiker und (Ex-)Verleger, der in seiner Erzählpros­a immer wieder furchtlos die Bezirke des Wahnsinns aufsucht.

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