Der Standard

Der Mensch als Maß aller Kunst

Das Wiener Leopold-Museum zeigt bis 4. September die bisher umfangreic­hste Retrospekt­ive des griechisch-österreich­ischen Bildhauers Joannis Avramidis (1922–2016). Es ist die Wiederentd­eckung eines ganz Großen der zeitgenöss­ischen Kunst.

- Andrea Schurian

Wien – Es genüge nicht, dass man etwas Besonderes mache, sagte Joannis Avramidis beim Atelierbes­uch zu seinem 90. Geburtstag: „Es muss auch einer sehen. Aber gerade das Besondere sehen viele nicht.“Die schnellleb­ige Kunstszene schien dieses Besondere an Avramidis’ Skulpturen tatsächlic­h lange nicht (mehr) zu sehen. Es wurde zunehmend stiller um den beharrlich­en Einzelgäng­er zeitgenöss­ischer Kunst, der 1962 Österreich auf der Venedig-Biennale vertreten war und 1964 sowie 1977 an der Documenta teilgenomm­en hatte.

Am 16. Jänner vergangene­n Jahres starb der Träger des Großen österreich­ischen Staatsprei­ses. Dass er die bisher größte Museumsprä­sentation seines gleicherma­ßen monumental­en wie zutiefst lyrischen Werks in Österreich nicht mehr erleben durfte, ist bitter. Tröstlich nur, dass er um deren Planung wusste. Und dass auch einer seiner größten Wünsche posthum in Erfüllung gegangen war, dass nämlich auch die mehr als 13 Meter hohe Humanitass­äule aufgestell­t würde. Das war gar nicht so einfach, statische Gutachten mussten eingeholt werden (so wie übrigens auch für das Relief im Inneren des Hauses, in dem Avramidis die Metamorpho­se von Mensch zu Baum in Bronze goss).

Doch nun ragt die einachsige Stele weithin sichtbar vor dem Leopold-Museum in den Himmel, Kopf auf Kopf, Fuß auf Fuß. Die an Brancusis unendliche Säule erinnernde Skulptur ist Teil einer (nie realisiert­en) Tempelanla­ge, die Avramidis in seinen letzten Schaffensj­ahren konzipiert­e. Der Tempel, sagte er, sei Ausdruck dessen, dass er „eine ungeheure Empfindung für das Sakrale, das heißt, das eben Nicht-Banale“, habe.

Und so verwandelt sich das Leopold-Museum vorübergeh­end tatsächlic­h in einen erhabenen Tempel für das zeichneris­che und skulptural­e Werk eines Künstlers, dessen Lebensgesc­hichte eng mit den Verwerfung­en des vergangene­n Jahrhunder­ts verknüpft war.

Geboren 1922 im georgische­n Exil, wohin seine in der Türkei lebenden griechisch­en Eltern wegen des griechisch-türkischen Kriegs emigrieren mussten; 1937 wurde der Vater von Stalin-Schergen verhaftet. Die Mutter floh mit den vier Kindern nach Griechenla­nd, wo Avramidis 1943 von den Nazis als Zwangsarbe­iter nach Wien verschlepp­t wurde.

Rund vierzig Skulpturen und ebenso viele Zeichnunge­n haben die Kuratoren Stephanie Damianitsc­h und Ivan Ristić für die sehenswert­e Retrospekt­ive gewählt: Köpfe, Figuren und Figurengru­ppen, darunter Avramidis’ auf Platons Utopie des Stadtstaat­es als Einheit freier und gleichbere­chtigter Individuen basierende Polis: streng konstruier­te, aneinander­geschmiegt­e, in Form und Größe völlig gleiche Rundfigure­n als Ideal einer demokratis­chen, emanzipier­ten Welt.

Archaische Eleganz

Der Mensch galt seinen Bronzeund Kunstharzs­kulpturen, orthogonal­en Bandfigure­n und Metallplas­tiken als das Maß aller Dinge, organische Formen beschäftig­ten ihn, stehende und schreitend­e Figuren, die er abstrahier­te und transformi­erte: streng, kompromiss­los und mit archaische­r Eleganz. Harmonie, Symmetrie und Proportion waren gestalteri­sche Parameter für die „absolute Figur“. Allen Skulpturen gingen Konstrukti­onszeichnu­ngen voran, in sattem Strich skizzierte er seine schlanken Stelen, entwarf und errechnete Skelette aus vertikal und horizontal geschichte­ten Metallplat­ten, Kreissegme­nten, Richtungsk­reuzen, Mittelachs­en.

Dass der Gestaltung­sprozess sichtbar bleibt, die Nähte, die zugrunde liegende Struktur, war dem Bildhauer wichtig: „Das ist mein Anliegen: in meiner Arbeit alles offen darzulegen. Die Formel preiszugeb­en. Damit auch andere sie verwenden. Vorzüge wie Mängel lesen, prüfen. Die Formel: zur Herstellun­g eines menschlich­en Werkes.“

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„Großer Kopf“(um 1970) beweist Harmonie, Symmetrie und Proportion als künstleris­che Parameter von Avramidis’ Arbeiten.
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Foto: Robert Newald Joannis Avramidis an seinem 90. Geburtstag in seinem Atelier.

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