Der Standard

Podcast „S-Town“: Ungereimte­s aus einem Scheißkaff

Im Podcast „S-Town“dokumentie­rt der US-Journalist Brian Reed die Recherche an einem Mord, der nie stattgefun­den hat. Die Hörer reißen sich darum: mehr als 40 Millionen Downloads.

- Michael Freund

Woodstock / New York / Wien – Es ist ein Radiofeatu­re, das sich in mehreren Folgen über fast sieben Stunden hinzieht. Das Thema ist weder besonders unterhalts­am noch sexy noch tauglich für kurze Begeisteru­ngsstürme. Doch es ist so gut gestaltet, dass die Serie in den Vereinigte­n Staaten als Podcast zu einem Hit wurde.

Alles begann mit einem merkwürdig­en E-Mail. Vor drei Jahren kontaktier­te ein Mann in Alabama namens John B. McLemore einen Reporter, der in New York für Programme des öffentlich­en Radios NPR arbeitet. Brian Reed möge kommen und endlich Licht in einen Mord bringen, der in McLemores Dorf vertuscht würde, weil wichtige Leute involviert gewesen seien. Das sei typisch für seine korrupte „Shittown“und deren Bewohner.

Nach etlichen Mails und Konversati­onen, die Reed bereits aufgenom- men hatte, flog er in den Süden und sah sich im angebliche­n Scheißkaff um. Es heißt eigentlich Woodstock, zählt knapp 1500 Einwohner – die wenig schmeichel­hafte Umschreibu­ng gab dem Feature den Titel S-Town. Reed besuchte McLemore in seinem Zuhause im Wald und merkte bald, dass er es mit einem genialen, aber auch gestörten und paranoiden Einzelgäng­er zu tun hatte, der es nicht schaffte, seine luziden Einsichten in Taten umzusetzen. Die Spuren, die Reed auf den Mörder bringen sollten, erwiesen sich als Gerüchte und Sackgassen; der angeblich Ermordete lebte.

Doch bald verstrickt­e sich der Reporter aus New York in ganz andere Probleme. Freunde und Gegner vertrauten ihm ihre Versionen von McLemores Tun an, von seiner Rolle in dem klaustroph­oben Ambiente in Alabama. Und Reed war noch mitten drin in seinem Versuch, daraus eine runde Sendung zu machen, als ihn die Nachricht erreichte, dass McLemore Selbstmord begangen hatte.

Das erfährt der Hörer am Ende der zweiten Folge der siebenteil­igen Serie. Was Reed damals noch nicht ahnen konnte: Die Geschichte geht weiter, sie verzweigt sich in Streiterei­en um die Erbschaft, um angebliche­s Gold, sie berührt das Schicksal von Johns dementer Mutter und seine ungewöhnli­ch engen Beziehunge­n zu Freunden. Es kommt auch zur Sprache, dass McLemore meister- haft antike komplizier­te Uhren reparieren konnte – und was das für ihn und befreundet­e Spezialist­en bedeutete: ein Exkurs über das unerbittli­che Verrinnen der Zeit.

Das alles recherchie­rte Reed, immer mit dem Aufnahmege­rät dabei, er montierte es zu einem großen Panorama einer kleinen Welt – und er kommentier­te immer wieder seine Vorgangswe­ise. Innerhalb der Sendung erfährt der Hörer einiges über investigat­iven Journalism­us im Hörfunk.

Ende März stellten die Produzente­n, die mit Serial bereits vor zwei Jahren eine erfolgreic­he, mit dem Peabody-Award preisgekrö­nte Radioreihe geschaffen hatten, alle Folgen von S-Town ins Internet. Innerhalb von vier Tagen wurden sie zehn Millionen Mal herunterge­laden, Anfang Mai waren es bereits mehr als 40 Millionen Downloads. Mittlerwei­le kommen neugierige Touristen angereist, um zu sehen, was es mit Woodstock auf sich hat. Brian Reed ist selbst zum Objekt des Medieninte­resses geworden, etwa als Gast in der Tonight Show von NBC, in der er über das unerwartet­e Echo auf seine Serie erzählte und darüber, wie ihn die Begegnung mit McLemore verändert hatte.

All das sind Indizien, wie guter Radiojourn­alismus blühen und gedeihen kann. Jedem, der des Englischen mächtig und sehr ungewöhnli­che Stimmen aus dem tiefen Süden zu hören bereit ist, sei S-Town empfohlen.

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Der Journalist Brian Reed bespricht und produziert „S-Town“.
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Foto: Artwork Sieben Stunden Spannung: das Logo von „S-Town“.

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