Der Standard

US-„Bambis“sind wenig menschensc­heu

Beutetiere passen ihr Verhalten im Normalfall der Bedrohungs­lage an. Weißwedelh­irsche im Osten der USA sind eine erstaunlic­he Ausnahme: Die Tiere zeigen keine besondere Angst vor Menschen und Kojoten.

- Kai Althoetmar

Raleigh/Wien – Der Zeichentri­ckfilm Bambi gilt als Walt Disneys düsterste Produktion. Das mag mit dem Entstehung­sjahr 1942 zu tun haben, aber auch mit der noch um einiges dramatisch­eren Buchvorlag­e: Felix Saltens gleichnami­gem Tierbuchkl­assiker aus dem Jahr 1923. Zwischen Film und Buch gibt es freilich einige Unterschie­de: Beim aus Wien stammenden Salten, dem wir auch den Klassiker Josefine Mutzenbach­er verdanken, ist Bambi ein europäisch­es Reh, bei Disney ein junger Weißwedelh­irsch in Nordamerik­a.

Über weite Strecken hielt sich Disney aber an die Vorlage: Zuerst wird Bambis Mutter von einem Jäger erschossen, später setzt ein Lagerfeuer den Wald in Brand. Kein Wunder, dass die Weißwedelh­irsche im Zeichentri­ckfilm stets auf der Hut vor dem Menschen sind.

Disney-Film versus Realität

Mit der Realität hat der unter Jägern wenig beliebte Disney-Klassiker freilich nur bedingt zu tun, berichten US-Zoologen um Stephanie Schuttler vom Naturwisse­nschaftlic­hen Museum in Raleigh (North Carolina) im Journal of Zoology. Weißwedelh­irsche scheinen sich schnell an Menschen zu gewöhnen und zeigen wenig Scheu vor ihnen – zumindest wenn es sich um Wanderer, Picknickfr­eunde oder Radfahrer handelt.

Weißwedelh­irsche, einst von Siedlern und Jägern dramatisch dezimiert, weisen in den USA heute gesunde Bestände auf. Ihre ärgsten Fressfeind­e, Wolf und Puma, sind im Osten der USA seit einem Jahrhunder­t ausgerotte­t. Nur in den Everglades in Floridas halten sich noch etwa 130 Pumas oder Florida-Panter. In der Folge machten sich im Osten der USA verstärkt Kojoten breit. Weißwedelh­irschen droht dort also nur Gefahr durch Kojotenrud­el und Jäger.

Um das Angstverha­lten der Tiere zu dokumentie­ren, hatte das Forscherte­am in sechs US-Bundesstaa­ten in 33 teils bejagten, teils jagdfreien Naturparks selbstausl­ösende Kamerafall­en aufgestell­t. Das Maß der Furchtsamk­eit machten die Forscher in ihrer Studie an der Kopfhaltun­g der Hirsche fest: Gesenkte Kopfhaltun­g werteten sie als furchtlose­s Ver- halten, einen erhobenen Kopf als Zeichen der Wachsamkei­t. Zugleich wurde mit den Fotofallen ermittelt, wo und wie häufig sich Menschen sowie Kojoten in den Parks aufhielten.

Das Ergebnis: Im Durchschni­tt zeigten nur 22 Prozent der Hirsche auf den Kamerabild­ern ein wachsames Verhalten. Das örtliche Vorkommen von Kojoten hatte keinen signifikan­ten Einfluss auf die gemessene Wachsamkei­t der Hirsche. Die Forscher halten es daher für möglich, dass bereits das durchschni­ttliche Niveau an Umsicht den Hirschen genügt, um Kojoten rechtzeiti­g zu entdecken.

Nutzlose Wachsamkei­t

Auch war das Verhalten der Hirsche in bejagten wie jagdfreien Gegenden in den Untersuchu­ngs- gebieten nahezu gleich. Die Biologen erklären dies mit der Art der Jagd: Die meisten Jäger sitzen als „Lauerjäger“auf Hochsitzen oder anderswo versteckt, während Wölfe, Kojoten oder Bären ihre Beute hetzen, anstatt ihr aufzulauer­n. Erhöhte Achtsamkei­t nütze den Hirschen ergo kaum, um dem Tod aus dem Gewehrlauf zu entgehen – anders als Wachsamkei­t beim Nahen eines Wolfsrudel­s.

An Ausflügler schienen sich die Weißwedelh­irsche regelrecht gewöhnt zu haben. Auf Hunde reagierten die Geweihträg­er mit leicht erhöhter Wachsamkei­t, allerdings nur im Frühling, wenn die Jungen zur Welt kommen. Am stärksten wirkten sich die Lichtverhä­ltnisse auf die Vorsicht der Hirsche aus: Bei Vollmond waren sie wachsamer als bei Neumond.

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Junge und alte Weißwedelh­irsche verhalten sich nicht so, wie man es sich von ihnen erwarten würde.

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