Der Standard

Wie man Nicht- Orte in Orte für Menschen verwandelt

Die Architekti­n Sanela Pansinger erforscht, wie Flughafena­reale mittelgroß­er Städte zur urbanen Entwicklun­g beitragen können

- Doris Griesser

Graz – Es gibt Orte, die niemand wirklich mag: Autobahnra­ststätten, Flughäfen und Bustermina­ls akzeptiert man als Durchgangs­stationen, aber ohne triftigen Grund geht man nur ungern dorthin. Der französisc­he Anthropolo­ge und Kulturtheo­retiker Marc Augé bezeichnet solche Räume als NichtOrte. Im Unterschie­d zu traditione­llen Orten mangle es ihnen an Identität und Geschichte. Die Menschen, die sich dort aufhalten (müssen), machen die Erfahrung von „Kollektivi­tät ohne Fest und Einsamkeit ohne Isolierung“, formuliert Augé, der mit seiner Diagnose der Nicht-Orte die stadttheor­etischen Debatten der 1990er-Jahre prägte.

Während traditione­lle Orte durch Ereignisse, Mythen und Geschichte­n mit Bedeutung aufgeladen werden, bleiben NichtOrte abstrakt und auf bestimmte Zwecke ausgericht­et. Durch die fortschrei­tende Verbauung vorhandene­r Flächen und die rasant wachsenden Städte entstehen diese Nicht-Orte heute teilweise unkontroll­iert. Doch wie können sie zu lebenswert­en Orten werden, die mehr sind als identitäts­lose Durchgangs­zonen? Dieser Frage hat sich die Architekti­n Sanela Pansinger in ihrer Dissertati­on gewidmet.

Pansinger beschäftig­t sich mit einem bestimmten Typus dieser Nicht-Orte und lotet deren ungenutzte­s Potenzial für die Stadtentwi­cklung aus: den Flughafena­realen mittelgroß­er Städte. Sie bringt ihre Expertise derzeit auch in ein Pilotproje­kt im Rahmen der Smart-Cities-Initiative ein: „SmartAIRea Flughafen Graz“nennt sich das von Joanneum Research / Kompetenzz­entrum LIFE, dem Department für Örtliche Raumplanun­g (IFOER) der TU Wien und der NEXT Gmbh durchgefüh­rte Sondierung­svorhaben. Eine interdiszi­plinäre Forschergr­uppe will darin zeigen, ob und wie sich aus einem schlecht genutzten Ort nachhaltig­e Impulse für die räumliche Entwicklun­g einer Stadt und einer Region gewinnen lassen.

Mehr als ein Transitber­eich

„Das Flughafenu­mfeld in Graz ist wie in den meisten Städten durch verstreute Gewerbe- und Industriea­nsiedlunge­n und durch einen hohen Flächenver­brauch geprägt“, sagt Sanela Pansinger. „Unser Ziel ist es, diesem Ort eine nachhaltig­e Gestalt zu geben, damit sich die Menschen gern dort aufhalten und ihn nicht nur als Transitber­eich wahrnehmen, den man nur betritt, um so schnell wie möglich woanders hinzugelan­gen.“

Wie man sich diese „nachhaltig­e Gestalt“vorstellen kann? „Nachhaltig bedeutet hier, den Ort lebensfähi­g und resilient zu machen“, so die Architekti­n, die viele Jahre am Institut für Städtebau der TU Graz wissenscha­ftlich tätig war. Lebensfähi­g sei ein Ort, wenn er auch nach dem Ende einer bestimmten Nutzung existieren kann. So wird das Grazer Flughafena­real heute etwa von Industrie- und Gewerbeobj­ekten dominiert, die durch eine sich verändernd­e Wirtschaft­slage wieder verschwind­en könnten. In diesem Fall würde der genutzte Nicht-Ort zum verwaisten Nicht-Ort. Dieses Verwaisen lasse sich aber verhindern: indem man den Ort so plant, dass er auf unterschie­dliche Weise genutzt werden kann. Das ge- lingt etwa, indem man die Transiträu­me des Flughafens und der nahen S-Bahn mit Wohnsiedlu­ngen, öffentlich­en Grün-, Freizeitun­d Kulturräum­en, Lokalen und Gewerbebet­rieben umgibt. Öffentlich­e Räume spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie einerseits den Raum gestalten, anderersei­ts Flexibilit­ät ermögliche­n: Schließt ein Betrieb, kann der ungenutzte Raum durch öffentlich­e Flächen rasch „aufgefüllt“werden.

Widerstand­sfähige Orte

Dass solch ein Areal auch für Freizeitge­staltung genutzt wird, sei durchaus realistisc­h, sagt Pansinger: So sei das größte Freizeitze­ntrum der Grazer, die SchwarzlTe­iche, nur einen Sprung vom Flughafena­real entfernt.

Und was meinen die Forscherin­nen und Forscher in ihrem Projekt mit „Nachhaltig­keit“? „Gestalteri­sche Nachhaltig­keit macht Orte nicht nur widerstand­sfähiger gegen wirtschaft­liche Veränderun­gen, sondern verbessert auch ihre Ökobilanz“, so Sanela Pansinger und Franz Prettentha­ler, Leiter des Kompetenzz­entrums LIFE. Vor allem könne gestalteri­sche Nachhaltig­keit eine emotionale Verbindung der Menschen zu Orten herstellen und Letzteren so im Sinne Augés Identität und Geschichte geben.

Die Wissenscha­fter haben zehn unterschie­dliche Konzepte ausgearbei­tet, wie das Grazer Flughafena­real von einem Nicht-Ort in einen Ort für Menschen verwandelt werden könnte. Nun liegt es an den politische­n Entscheidu­ngsträgern, ob eines davon umgesetzt wird. Der „Werkzeugka­sten“für eine Neugestalt­ung ist jedenfalls gut gefüllt und steht auch anderen Städten mit Nachhaltig­keitsambit­ionen zur Verfügung. Hält man sich vor Augen, wie viele Nicht-Orte unsere verbaute Umwelt prägen, wie viel Fläche diese verbrauche­n und wie viel Zeit wir an diesen Orten verbringen müssen, wäre ein Umdenken in diesem Bereich zweifellos ein smartes Statement – ganz besonders im Kontext der aktuellen Smart-City-Ambitionen.

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Nicht-Orte lassen Menschen Einsamkeit ohne Isolierung erfahren, sagt der Stadttheor­etiker Marc Augé. Im Bild der Grazer Flughafen.

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