Norwegische Spurensuche nach Ludwig Wittgenstein
Mit dem Namen Ludwig Wittgenstein verbindet man gemeinhin die Orte Wien und Cambridge. Doch in einem Kaff am Ende des längsten Fjords Europas schrieb der große Philosoph an einigen seiner wichtigsten Texte.
Österreich heißt auf Norwegisch Østerrike. Für die Bewohner eines kleinen, eher abgelegenen Dorfs in Norwegen ist damit freilich nicht nur ein kleines Land in Mitteleuropa gemeint, sondern ein ganz besonderer Ort in ihrer unmittelbaren Nähe. Um dorthin zu gelangen, ist freilich eine längere Reise vonnöten, die man am besten in der Stadt Bergen an der Südwestküste Norwegens beginnt.
Etwa fünfzig Kilometer nördlich der Küstenstadt beginnt der Sognefjord, der mit über 200 Kilometern längste und zugleich tiefste Fjord Europas. Seitlich und am Ende des im Südwesten Norwegens gelegenen Fjords hingegen geht es umso steiler nach oben: In der hochalpinen Region rund um den Meeresarm gibt es etliche gletscherbedeckte 2000er.
Der vom offenen Meer am weitesten entfernte Ort des Fjords heißt Skjolden (sprich: Schölden), liegt am Ende seines längsten Nebenarms namens Lustrafjord und ist heute per Auto recht bequem erreichbar. Das 300-Seelen-Dorf hat aber auch einen Hafen, an dem seit einigen Jahren auch kleinere Kreuzfahrtschiffe anlegen können, einen Supermarkt, ein Gemeindehaus mit Kletterwand und Schwimmbad sowie ein kleines Hotel. Denn ein bisschen Tourismus gibt es auch.
Hinter diesem Ort, wo sich Lachs und Fuchs gute Nacht sagen, befindet sich ein malerischer kleiner See, der an drei Seiten von steilem Gelände eingerahmt wird. Direkt gegenüber von Skjolden, rund 30 Meter oberhalb des Sees, in nicht ganz leicht zugänglichem Gelände liegt es dann: Østerrike. Dass es den Bewohnern von Skjolden ernst damit ist, beweist eine fünf Meter hohe weiße Fahnenstange, auf der ein rot-weiß-roter Wimpel im Wind baumelt.
Die Geschichte, wie dieser besondere Flecken Erde zu seinem Namen kam, beginnt im Jahr 1913. Im Spätsommer dieses Jahres reiste der Philosophiestudent Ludwig Wittgenstein gemeinsam mit seinem Freund David Pinsent von Cambridge nach Bergen, um Urlaub zu machen und an einem Manuskript zu arbeiten. Wittgenstein litt unter schweren Depressionen und war sich sicher, nur mehr wenige Monate zu leben.
„Ich sagte, er sei verrückt“
Dennoch: Nach Cambridge zurückgekehrt, wo er seit Anfang 1912 studierte, erklärte er seinem Mentor Bertrand Russell, sofort wieder nach Norwegen reisen zu müssen. Wie sich Russell erinnerte, hatte Wittgenstein vor, „dort in völliger Einsamkeit zu leben, bis er alle Probleme der Logik gelöst habe“. Auf Russells Einwände, dass es in Norwegen im Winter dunkel und einsam sei, entgegnete Wittgenstein, er hasse Tageslicht und würde bloß seinen Geist prostituieren, wenn er mit intelligenten Leuten spräche. „Ich sagte, er sei verrückt“, heißt es in Russells Notizen, „und er sagte, Gott bewahre mich vor geistiger Gesundheit.“Nachsatz Russell: „Das wird Gott sicher tun.“
Wittgenstein war damals 24 Jahre alt und hatte sich in Cambridge trotz harter Konkurrenz schnell den Ruf eines exzentrischen Genies erarbeitet. Seine Herkunft spielte dabei wohl auch eine gewisse Rolle: Der Sohn des schwerreichen Wiener Stahlindustriellen Karl Wittgenstein verfügte seit 1910 über ein Jahreseinkommen, das nach heutigem Wert mehr als eine Million Euro betrug. Als der Paterfamilias Anfang 1913 starb, waren Ludwig und seine Geschwister mit einem Schlag noch sehr viel reicher.
Dass Wittgenstein Ende Oktober 1913 ausgerechnet am Ende des längsten Fjords Europas landete, hatte indirekt wohl auch mit Geld zu tun: Der Student hatte mit dem österreichisch-ungarischen Honorarkonsul in Bergen Bekanntschaft gemacht, der wiederum mit Hallvard Drægni in Kontakt stand, einem Unternehmer aus Skjolden, der damals von dort aus Beeren exportierte.
„Skjolden war damals alles andere als das Ende der Welt“, sagt der Dorfhistoriker Harald Vatne mit Verweis auf die regen Handelsbeziehungen nicht zuletzt dank Drægnis kleiner Fabrik. Wittgenstein habe sich dann bei dessen Schwester eingemietet, die in einem Haus mitten in der kleinen Ortschaft wohnte, wie der pensionierte Lehrer erzählt, der auch ein Buch über Wittgenstein in Skjolden geschrieben hat.
Österreichs vermutlich größter Philosoph des 20. Jahrhunderts wurde von den Dorfbewohnern als verrückt wahrgenommen, so Vatne, und im Dorf hielten sich viele Anekdoten über den eigenwilligen Gast. So habe sich Wittgenstein einmal lautstark mit einer Kuh unterhalten und ihr befohlen, Gras zu fressen, anstatt ihn anzustarren. Und zu Drægni meinte der Millionenerbe: „Das Schlimmste, was einem Mann passieren kann, ist, wie ein Geldsack durch das Leben zu gehen.“
Suche nach Einfachheit
Womöglich war dieses gewaltige Vermögen, dessen sich Wittgenstein in den nächsten Jahren konsequent entledigte, einer der Gründe, warum er die Einfachheit dieses norwegischen Kaffs suchte. Vor allem aber kam er – anders als in Wien – mit seinem Denken gut voran: Laut dem Wittgenstein-Biografen Ray Monk, der gerade an einem Drehbuch für ein großes Hollywood-Biopic über den Philosophen arbeitet, zählten die Monate in Skjolden zu den produktivsten seines Lebens.
Wittgenstein suchte freilich noch mehr Einsamkeit und machte im Frühjahr 1914 Pläne, sich am Rande des Orts ein Holzhaus zu bauen. Er hatte dafür drei Plätze in die engere Auswahl gezogen, entschied sich dann aber für den augenscheinlich besten: für einen Felsvorsprung über dem See mit großartigem Blick auf Skjolden, den See und die Bergwelt: Østerrike eben.
Das Besondere daran sei, dass man zumindest vom Balkon des Hauses aus nicht nur die Oberfläche des Sees, sondern auch die des Fjords sehen konnte, sagte der Architekt Kjetil Trædal Thorsen im Vorjahr bei einer Veranstaltung der Wittgenstein-Initiative in Wien. Der Mitbegründer des weltweit tätigen Büros Snøhetta geht davon aus, dass diese beiden Horizonte und die Berge für Wittgensteins Denken wichtig gewesen seien.
Thorsen, der mit seinem Büro unter anderem die neue Oper in Oslo entworfen und den Times Square in New York in eine Fußgängerzone verwandelt hat, verwies aber auch darauf, dass dieses Haus in Skjolden das einzige sei, das Wittgenstein je für sich selbst entworfen habe. Am Haus Wittgenstein in der Wiener Kundmanngasse sei der Philosoph nur Mitplaner gewesen, außerdem wurde es von seiner Schwester bewohnt.
Fertiggestellt und bezugsfertig wurde das eigene Haus des Philosophen freilich erst nach dessen Abreise im Sommer 1914. Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus, und Wittgenstein glaubte nicht mehr daran, je sein Haus bewohnen zu können. Das passierte dann aber doch, Jahre später und gleich mehrmals.
„Die wunderbare Landschaft“
Wittgenstein besuchte Skjolden 1931, lebte dann ab August 1936 mehr als ein Jahr lang dort und schrieb in diesen Monaten wichtige Teile seiner Philosophischen Untersuchungen, die als eines seiner Hauptwerke gelten. In einem Brief aus diesem Jahr heißt es: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwo sonst so arbeiten könnte, wie ich es hier tue. Es ist die stille und, womöglich, die wunderbare Landschaft; ich meine: ihre stille Ernsthaftigkeit.“
Immer, wenn Wittgenstein in seinem Haus lebte, so Harald Vatne, hieß es damals bei Dorfbewoh- nern: „Der Philosoph ist in Österreich.“Allzu nahe sollte man dem Haus aber besser nicht kommen: Als sich ein Einheimischer einmal in der Nähe blicken ließ, erzählt Vatne, soll Wittgenstein den Passanten angeherrscht haben, dass er nun wieder zwei Wochen brauchen würde, um dort weiterdenken zu können, wo er gerade unterbrochen wurde.
Im Jahr 1950 begab sich Wittgenstein noch einmal nach Skjolden und plante zurück in Cambridge, sich für längere Zeit in Norwegen niederzulassen. Doch sein früher Tod 1951 durchkreuzte die Pläne. Sieben Jahre später wurde dann auch Wittgensteins sieben mal acht Meter großes Holzhaus, das er einem Bewohner des Orts geschenkt hatte, abgebaut und nicht ganz authentisch in Skjolden wieder aufgestellt: ohne Balkon, das Dach um 90 Grad gedreht, dafür aber mit Eternitverkleidung.
Wiederaufbau am Originalort
Doch das soll sich demnächst ändern, sagt Harald Vatne hoffnungsfroh, der auch darauf verweist, dass noch 90 Prozent des originalen Baumaterials vorhanden seien. Gemeinsam mit Lokalpolitikern und Philosophen der Universität Bergen und unterstützt von Schriftstellern wie Jon Fosse und Jostein Gaarder betreibt er die Wiedererrichtung von Wittgensteins Haus an seinem Originalstandplatz, wo immerhin noch das Steinfundament existiert.
Heuer soll es damit nun nach etlichen Jahren Anlauf aber wirklich ernst werden: Das Haus wurde seinem Zwischenbesitzer abgekauft und wird, so die Pläne, im Sommer fachkundig zerlegt werden. Die Gruppe um Vatne hat auch das Grundstück oberhalb des Sees erworben und mit Wegbauarbeiten begonnen. Und wenn es mit den Spenden klappt, dann könnte der Wiederaufbau schon 2018 erfolgen – und damit das Haus des großen österreichischen Philosophen in seine Heimat Østerrike zurückkehren.