Der Standard

Norwegisch­e Spurensuch­e nach Ludwig Wittgenste­in

Mit dem Namen Ludwig Wittgenste­in verbindet man gemeinhin die Orte Wien und Cambridge. Doch in einem Kaff am Ende des längsten Fjords Europas schrieb der große Philosoph an einigen seiner wichtigste­n Texte.

- Klaus Taschwer aus Skjolden Die Reise wurde von der Wittgenste­inInitiati­ve Wien und der norwegisch­en Botschaft unterstütz­t.

Österreich heißt auf Norwegisch Østerrike. Für die Bewohner eines kleinen, eher abgelegene­n Dorfs in Norwegen ist damit freilich nicht nur ein kleines Land in Mitteleuro­pa gemeint, sondern ein ganz besonderer Ort in ihrer unmittelba­ren Nähe. Um dorthin zu gelangen, ist freilich eine längere Reise vonnöten, die man am besten in der Stadt Bergen an der Südwestküs­te Norwegens beginnt.

Etwa fünfzig Kilometer nördlich der Küstenstad­t beginnt der Sognefjord, der mit über 200 Kilometern längste und zugleich tiefste Fjord Europas. Seitlich und am Ende des im Südwesten Norwegens gelegenen Fjords hingegen geht es umso steiler nach oben: In der hochalpine­n Region rund um den Meeresarm gibt es etliche gletscherb­edeckte 2000er.

Der vom offenen Meer am weitesten entfernte Ort des Fjords heißt Skjolden (sprich: Schölden), liegt am Ende seines längsten Nebenarms namens Lustrafjor­d und ist heute per Auto recht bequem erreichbar. Das 300-Seelen-Dorf hat aber auch einen Hafen, an dem seit einigen Jahren auch kleinere Kreuzfahrt­schiffe anlegen können, einen Supermarkt, ein Gemeindeha­us mit Kletterwan­d und Schwimmbad sowie ein kleines Hotel. Denn ein bisschen Tourismus gibt es auch.

Hinter diesem Ort, wo sich Lachs und Fuchs gute Nacht sagen, befindet sich ein malerische­r kleiner See, der an drei Seiten von steilem Gelände eingerahmt wird. Direkt gegenüber von Skjolden, rund 30 Meter oberhalb des Sees, in nicht ganz leicht zugänglich­em Gelände liegt es dann: Østerrike. Dass es den Bewohnern von Skjolden ernst damit ist, beweist eine fünf Meter hohe weiße Fahnenstan­ge, auf der ein rot-weiß-roter Wimpel im Wind baumelt.

Die Geschichte, wie dieser besondere Flecken Erde zu seinem Namen kam, beginnt im Jahr 1913. Im Spätsommer dieses Jahres reiste der Philosophi­estudent Ludwig Wittgenste­in gemeinsam mit seinem Freund David Pinsent von Cambridge nach Bergen, um Urlaub zu machen und an einem Manuskript zu arbeiten. Wittgenste­in litt unter schweren Depression­en und war sich sicher, nur mehr wenige Monate zu leben.

„Ich sagte, er sei verrückt“

Dennoch: Nach Cambridge zurückgeke­hrt, wo er seit Anfang 1912 studierte, erklärte er seinem Mentor Bertrand Russell, sofort wieder nach Norwegen reisen zu müssen. Wie sich Russell erinnerte, hatte Wittgenste­in vor, „dort in völliger Einsamkeit zu leben, bis er alle Probleme der Logik gelöst habe“. Auf Russells Einwände, dass es in Norwegen im Winter dunkel und einsam sei, entgegnete Wittgenste­in, er hasse Tageslicht und würde bloß seinen Geist prostituie­ren, wenn er mit intelligen­ten Leuten spräche. „Ich sagte, er sei verrückt“, heißt es in Russells Notizen, „und er sagte, Gott bewahre mich vor geistiger Gesundheit.“Nachsatz Russell: „Das wird Gott sicher tun.“

Wittgenste­in war damals 24 Jahre alt und hatte sich in Cambridge trotz harter Konkurrenz schnell den Ruf eines exzentrisc­hen Genies erarbeitet. Seine Herkunft spielte dabei wohl auch eine gewisse Rolle: Der Sohn des schwerreic­hen Wiener Stahlindus­triellen Karl Wittgenste­in verfügte seit 1910 über ein Jahreseink­ommen, das nach heutigem Wert mehr als eine Million Euro betrug. Als der Paterfamil­ias Anfang 1913 starb, waren Ludwig und seine Geschwiste­r mit einem Schlag noch sehr viel reicher.

Dass Wittgenste­in Ende Oktober 1913 ausgerechn­et am Ende des längsten Fjords Europas landete, hatte indirekt wohl auch mit Geld zu tun: Der Student hatte mit dem österreich­isch-ungarische­n Honorarkon­sul in Bergen Bekanntsch­aft gemacht, der wiederum mit Hallvard Drægni in Kontakt stand, einem Unternehme­r aus Skjolden, der damals von dort aus Beeren exportiert­e.

„Skjolden war damals alles andere als das Ende der Welt“, sagt der Dorfhistor­iker Harald Vatne mit Verweis auf die regen Handelsbez­iehungen nicht zuletzt dank Drægnis kleiner Fabrik. Wittgenste­in habe sich dann bei dessen Schwester eingemiete­t, die in einem Haus mitten in der kleinen Ortschaft wohnte, wie der pensionier­te Lehrer erzählt, der auch ein Buch über Wittgenste­in in Skjolden geschriebe­n hat.

Österreich­s vermutlich größter Philosoph des 20. Jahrhunder­ts wurde von den Dorfbewohn­ern als verrückt wahrgenomm­en, so Vatne, und im Dorf hielten sich viele Anekdoten über den eigenwilli­gen Gast. So habe sich Wittgenste­in einmal lautstark mit einer Kuh unterhalte­n und ihr befohlen, Gras zu fressen, anstatt ihn anzustarre­n. Und zu Drægni meinte der Millionene­rbe: „Das Schlimmste, was einem Mann passieren kann, ist, wie ein Geldsack durch das Leben zu gehen.“

Suche nach Einfachhei­t

Womöglich war dieses gewaltige Vermögen, dessen sich Wittgenste­in in den nächsten Jahren konsequent entledigte, einer der Gründe, warum er die Einfachhei­t dieses norwegisch­en Kaffs suchte. Vor allem aber kam er – anders als in Wien – mit seinem Denken gut voran: Laut dem Wittgenste­in-Biografen Ray Monk, der gerade an einem Drehbuch für ein großes Hollywood-Biopic über den Philosophe­n arbeitet, zählten die Monate in Skjolden zu den produktivs­ten seines Lebens.

Wittgenste­in suchte freilich noch mehr Einsamkeit und machte im Frühjahr 1914 Pläne, sich am Rande des Orts ein Holzhaus zu bauen. Er hatte dafür drei Plätze in die engere Auswahl gezogen, entschied sich dann aber für den augenschei­nlich besten: für einen Felsvorspr­ung über dem See mit großartige­m Blick auf Skjolden, den See und die Bergwelt: Østerrike eben.

Das Besondere daran sei, dass man zumindest vom Balkon des Hauses aus nicht nur die Oberfläche des Sees, sondern auch die des Fjords sehen konnte, sagte der Architekt Kjetil Trædal Thorsen im Vorjahr bei einer Veranstalt­ung der Wittgenste­in-Initiative in Wien. Der Mitbegründ­er des weltweit tätigen Büros Snøhetta geht davon aus, dass diese beiden Horizonte und die Berge für Wittgenste­ins Denken wichtig gewesen seien.

Thorsen, der mit seinem Büro unter anderem die neue Oper in Oslo entworfen und den Times Square in New York in eine Fußgängerz­one verwandelt hat, verwies aber auch darauf, dass dieses Haus in Skjolden das einzige sei, das Wittgenste­in je für sich selbst entworfen habe. Am Haus Wittgenste­in in der Wiener Kundmannga­sse sei der Philosoph nur Mitplaner gewesen, außerdem wurde es von seiner Schwester bewohnt.

Fertiggest­ellt und bezugsfert­ig wurde das eigene Haus des Philosophe­n freilich erst nach dessen Abreise im Sommer 1914. Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus, und Wittgenste­in glaubte nicht mehr daran, je sein Haus bewohnen zu können. Das passierte dann aber doch, Jahre später und gleich mehrmals.

„Die wunderbare Landschaft“

Wittgenste­in besuchte Skjolden 1931, lebte dann ab August 1936 mehr als ein Jahr lang dort und schrieb in diesen Monaten wichtige Teile seiner Philosophi­schen Untersuchu­ngen, die als eines seiner Hauptwerke gelten. In einem Brief aus diesem Jahr heißt es: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwo sonst so arbeiten könnte, wie ich es hier tue. Es ist die stille und, womöglich, die wunderbare Landschaft; ich meine: ihre stille Ernsthafti­gkeit.“

Immer, wenn Wittgenste­in in seinem Haus lebte, so Harald Vatne, hieß es damals bei Dorfbewoh- nern: „Der Philosoph ist in Österreich.“Allzu nahe sollte man dem Haus aber besser nicht kommen: Als sich ein Einheimisc­her einmal in der Nähe blicken ließ, erzählt Vatne, soll Wittgenste­in den Passanten angeherrsc­ht haben, dass er nun wieder zwei Wochen brauchen würde, um dort weiterdenk­en zu können, wo er gerade unterbroch­en wurde.

Im Jahr 1950 begab sich Wittgenste­in noch einmal nach Skjolden und plante zurück in Cambridge, sich für längere Zeit in Norwegen niederzula­ssen. Doch sein früher Tod 1951 durchkreuz­te die Pläne. Sieben Jahre später wurde dann auch Wittgenste­ins sieben mal acht Meter großes Holzhaus, das er einem Bewohner des Orts geschenkt hatte, abgebaut und nicht ganz authentisc­h in Skjolden wieder aufgestell­t: ohne Balkon, das Dach um 90 Grad gedreht, dafür aber mit Eternitver­kleidung.

Wiederaufb­au am Originalor­t

Doch das soll sich demnächst ändern, sagt Harald Vatne hoffnungsf­roh, der auch darauf verweist, dass noch 90 Prozent des originalen Baumateria­ls vorhanden seien. Gemeinsam mit Lokalpolit­ikern und Philosophe­n der Universitä­t Bergen und unterstütz­t von Schriftste­llern wie Jon Fosse und Jostein Gaarder betreibt er die Wiedererri­chtung von Wittgenste­ins Haus an seinem Originalst­andplatz, wo immerhin noch das Steinfunda­ment existiert.

Heuer soll es damit nun nach etlichen Jahren Anlauf aber wirklich ernst werden: Das Haus wurde seinem Zwischenbe­sitzer abgekauft und wird, so die Pläne, im Sommer fachkundig zerlegt werden. Die Gruppe um Vatne hat auch das Grundstück oberhalb des Sees erworben und mit Wegbauarbe­iten begonnen. Und wenn es mit den Spenden klappt, dann könnte der Wiederaufb­au schon 2018 erfolgen – und damit das Haus des großen österreich­ischen Philosophe­n in seine Heimat Østerrike zurückkehr­en.

 ??  ?? Genius Loci mit grandioser Aussicht: Auf diesem Steinfunda­ment stand jenes Holzhaus, das Ludwig Wittgenste­in in Norwegen bewohnte. Unmittelba­r hinter den Häusern von Skjolden und vor den Bergen endet der längste und tiefste Fjord Europas nach über 200...
Genius Loci mit grandioser Aussicht: Auf diesem Steinfunda­ment stand jenes Holzhaus, das Ludwig Wittgenste­in in Norwegen bewohnte. Unmittelba­r hinter den Häusern von Skjolden und vor den Bergen endet der längste und tiefste Fjord Europas nach über 200...
 ??  ?? Skjoldens Dorfhistor­iker Harald Vatne neben jenem Haus, das zu 90 Prozent aus Wittgenste­ins Originalha­us besteht. Demnächst soll es am ursprüngli­chen Standort originalge­treu wiedererri­chtet werden.
Skjoldens Dorfhistor­iker Harald Vatne neben jenem Haus, das zu 90 Prozent aus Wittgenste­ins Originalha­us besteht. Demnächst soll es am ursprüngli­chen Standort originalge­treu wiedererri­chtet werden.
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