Der Standard

Neuroblast­om: Wissen, wie der Krebs tickt

Krebszelle­n verfügen über erstaunlic­h vielfältig­e genetische Ausstattun­gen. Nur wer diese möglichst genau kennt, kann Krebs erfolgreic­h behandeln. Nun sind Wiener Krebsforsc­her den Geheimniss­en der Tumorheter­ogenität auf der Spur.

- Kurt de Swaaf

– Die Natur mag’s bunt. Ständig bringt sie neue Formen, Farben und Systeme hervor. Man nennt das auch Evolution, und das Ergebnis ihrer nicht enden wollenden Kreativitä­t ist die überwältig­ende Biodiversi­tät, die in den vergangene­n dreieinhal­b Milliarden Jahren auf unserem Planeten entstanden ist. Der Entwicklun­gsprozess selbst läuft de facto immer nach dem gleichen Muster ab: Am Anfang steht die Mutation, eine Veränderun­g im genetische­n Code, die weitere Abweichung­en nach sich zieht. Deren Auswirkung­en können positiv oder negativ sein. Das Effiziente setzt sich letztlich durch. Selektion eben. Leider hat dieses Prinzip auch seine Tücken. Was der Gesamtheit langfristi­g nutzt, kann für den Einzelnen katastroph­ale Folgen haben. Krebs zum Beispiel.

Das Wuchern beginnt

Karzinome und Tumoren entstehen ebenfalls durch Erbgutände­rungen. Am Anfang sind nur einzelne Zellen betroffen. In ihrer DNA werden Gene oder Schaltelem­ente geschädigt, bei Zellteilun­gen können ganze Chromosome­n falsch zugeordnet werden. Die fehlerhaft­e genetische Ausstattun­g stört das biologisch­e Programm und lässt die zelluläre Kontrolle entgleisen. Das Wuchern beginnt.

Die Mediziner Peter und Inge Ambros untersuche­n seit Jahren die Dynamik von Krebserkra­nkungen. Die am St.-Anna-Kinderkreb­sforschung­sinstitut in Wien tätigen Experten sind internatio­nal für ihre Forschung im Bereich Tumorbiolo­gie anerkannt. Zu ihren wichtigste­n Studienobj­ekten zählen Neuroblast­ome, aus embryonale­n Zellen des Nervensyst­ems entstanden­e Geschwulst­e, die vor allem bei Säuglingen und Kleinkinde­rn auftreten.

Viele der jungen Patienten überleben die Krankheit nicht. „Etwa 60 Prozent der Neuroblast­ome haben leider ein sehr aggressive­s Ausbreitun­gsverhalte­n“, sagt Peter Ambros. Solche Tumoren bilden schnell Metastasen, die sich schlecht bekämpen lassen. Manche andere Neuroblast­ome stellen kaum eine Gefahr dar; sie verbreiten sich nicht und lassen sich chirurgisc­h gut behandeln.

Was unterschei­det nun die bösartigen Varianten von den eher harmlosen? Eine zentrale Funktion dürfte das Gen MYCN haben. Es spielt eine entscheide­nde Rolle in der Embryonale­ntwicklung und steuert Tausende anderer Gene mit wachstumsf­ördernder Wirkung, vor allem in Nervenzell­en. In Neuroblast­omen existiert MYCN oft in vielfacher Ausgabe. Das sei ein sehr guter Indikator für Bösartigke­it, so Ambros: Je mehr MYCN-Kopien in den Zellen vorhanden sind, desto stärker neigen sie zu hemmungslo­ser Teilung und Metastasen­bildung. Statt gesundes Nervengewe­be wachsen undifferen­zierte Gebilde heran.

Dennoch ist ein Neuroblast­om keine homogene Masse. Seine Zellen sind erstaunlic­h unterschie­dlich genetisch ausgestatt­et. Denn bei der unkontroll­ierten Vermehrung treten ständig weitere Mutationen auf. Im Prinzip findet dadurch eine Evolution in Miniatur statt: Aus einem bestimmten Typus gehen in der nächsten Generation neue Formen hervor. „Tumorzelle­n unterliege­n auch einem Selektions­druck“, erläutert Ambros. Das Immunsyste­m attackiert die Hasardeure, Chemothera­pie sowie Bestrahlun­g fordern ebenfalls ihren Tribut. Auf Dauer überleben nur die Zähen. Nur sie können sich ausbreiten.

Die Metastasie­rung geht immer von wenigen, aus dem Primärtumo­r abgewander­ten Zellen aus. Für solche, die einem Neuroblast­om entstammen, ist das Knochen- mark das erste Ziel. Es bietet die ideale Umgebung für weitere Proliferat­ion. Bis zu 80 Prozent des Knochenmar­ks können irgendwann aus abgesiedel­ten Krebszelle­n bestehen, sagt Ambros. Aus dieser Masse gehen leicht neue Vagabunden hervor. Sie siedeln sich anderswo im Körper an und bilden zusätzlich­e Karzinome.

Das Ehepaar Ambros und seine Kollegen wollen dem ursprüngli­chen Übeltäter auf die Spur kommen: „Wir sind auf der Suche nach dem aggressive­n Klon.“Denn dessen Nachkommen bringen den Patienten um.

Den Feind kennen

Einer aktuellen Studie zufolge dürfte nicht nur das MYCN-Gen für einen tödlichen Krankheits­verlauf entscheide­nd sein. Ein Forscherte­am unter Ambros’ Führung analysiert­e die DNA von abgewander­ten Neuroblast­omzellen und fand weitere, offensicht­lich gefährlich­e Mutationen. Zum einen sind dies Lücken in einem Gen namens ATRX: „Wenn ATRX nicht mehr funktionsf­ähig ist, werden eine Reihe von Zellfunkti­onen gestört, die ein sehr aggressive­s Tumorwachs­tum zur Folge haben“, so Ambros. Die Krebskeime altern praktisch nicht mehr. Zusätzlich­e Probleme bereite das Abbrechen eines ganzen Arms des Chromosoms 19. Auch diese Störung tritt bei metastasie­renden Neuroblast­omzellen gehäuft auf.

Für die Ärzte ist es sehr wichtig, einen Krebs möglichst genau zu verstehen; seine genetische Ausstattun­g ist der Schlüssel für eine erfolgreic­he Behandlung. Bisher werden für solche Untersuchu­ngen standardmä­ßig Gewebeprob­en entnommen. Dabei bekommt man jedoch nur einen winzigen Teil des Tumors zu Gesicht, die Vielfalt der Mutationen lässt sich so nicht erfassen.

Eine vielverspr­echende Lösung ist die Analyse von zellfreier DNA, etwa aus Blutplasma. Sie bietet einen besseren Überblick über die Tumorheter­ogenität. Über solche „flüssigen Biopsien“kann man womöglich metastasen­fördernde Genverände­rungen früh erkennen und die Wirksamkei­t einer Therapie beobachten, hoffen Inge und Peter Ambros.

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Was unterschei­det bösartige von eher harmlosen Krebsvaria­nten, was beeinfluss­t den Krankheits­verlauf? Eine zentrale Funktion dürften bestimmte Gene und deren Mutationen haben. Wien

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