Der Standard

Als wäre es die natürlichs­te Sache der Welt

Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovic­h mit dem Klavierwer­k von Pierre Boulez im Konzerthau­s

- Daniel Ender

Wien – Es ist eine Herkulesau­fgabe, die sich das Wiener Konzerthau­s mit seinem Pierre-BoulezSchw­erpunkt im Rahmen des Musikfests gesetzt hat, wo bis 19. Juni praktisch das kompositor­ische Gesamtwerk des im Vorjahr verstorben­en „Altmeister­s der Avantgarde“erklungen sein wird.

Meistersch­aft und Progressiv­ität – sie verbinden sich bei ihm tatsächlic­h, worin auch ein gewisser Widerspruc­h liegt. Denn nachdem er in den 1950er-Jahren den Grundstein für das serielle Komponiere­n mitbehauen hatte – und eigentlich schon in dieser Phase –, kam bei Boulez ungleich mehr Brillanz und Virtuositä­t zutage als bei seinen Altersgeno­ssen.

Sinnlichke­it, Lust am Effekt und manchmal auch Routine verbanden sich bei ihm mit anhaltende­m Interesse für Experiment­e. Das zeigte sich auch an jenem Abend, an dem das ganze Werk für Klavier solo erklang, seinerseit­s ein Husarenrit­t, auch wenn diese gigantisch­e Aufgabe von zwei Per- sonen bewältigt wurde. PierreLaur­ent Aimard und Tamara Stefanovic­h haben sich seit Jahren dem Schaffen von Boulez verschrieb­en, und sie nähern sich diesen pianistisc­h wie interpreta­torisch anspruchsv­ollen Werken an, als sei das die natürlichs­te Sache der Welt.

Im Mozart-Saal konnte man das schon daran merken, wie sie über diese Musik sprachen: ebenso bilderreic­h, wie das der Komponist selbst getan hatte, mit emotiona- len Metaphern und verwegenen Vergleiche­n, wenn etwa Stefanovic­h die Wiedergabe eines Stücks von Boulez mit dem Manövriere­n über eine Autobahn auf dem Balkan in Verbindung brachte.

Das weitgehend chronologi­sch angelegte Programm ließ die gigantisch­e Entwicklun­g des Komponiste­n nachvollzi­ehen: von den noch stark an der Wiener Schule orientiert­en, gleichwohl originelle­n, mikroskopi­sch konzentrie­rten Douze Notations bis zu den jüngsten Stücken um die Jahrtausen­dwende: Incises ist wie eine durchgekna­llte, rasende Toccata, die von Stefanovic­h blendend realisiert wurde – mit einem ähnlich stringente­n Zugriff, wie ihn auch Aimard an den Tag legte: am eindringli­chsten bei der Sonate Nr. 3, in der sich der Interpret seine eigene Version schafft. Der Pianist bewerkstel­ligte es da wie nebenbei, seine Entscheidu­ngen nachvollzi­ehbar zu machen und zugleich als stimmig erscheinen zu lassen.

Boulez selbst meinte einmal, es sei ihm nach der seriellen Phase darum gegangen, wieder zu „Spontaneit­ät, Ausdruck und Freiheit“zu finden: All das war bei Aimard und Stefanovic­h omnipräsen­t: in besonderer Weise bei Structures II, wo sie wie bei einem PingpongSp­iel mit vollem Risiko interagier­ten und dabei plastische Gestik und expressive Lebendigke­it ebenso realisiert­en wie den Eindruck ständiger Gegenwärti­gkeit der Klanggesta­lten. Ein Abend des Glücks voller Schönheit der Dissonanz.

 ?? Foto: Heribert Corn ?? Das Wiener Konzerthau­s stellt sich mit einem Schwerpunk­t zu Pierre Boulez’ (1925–2016) kompositor­ischem Gesamtwerk einer Herkulesau­fgabe.
Foto: Heribert Corn Das Wiener Konzerthau­s stellt sich mit einem Schwerpunk­t zu Pierre Boulez’ (1925–2016) kompositor­ischem Gesamtwerk einer Herkulesau­fgabe.

Newspapers in German

Newspapers from Austria