Als wäre es die natürlichste Sache der Welt
Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich mit dem Klavierwerk von Pierre Boulez im Konzerthaus
Wien – Es ist eine Herkulesaufgabe, die sich das Wiener Konzerthaus mit seinem Pierre-BoulezSchwerpunkt im Rahmen des Musikfests gesetzt hat, wo bis 19. Juni praktisch das kompositorische Gesamtwerk des im Vorjahr verstorbenen „Altmeisters der Avantgarde“erklungen sein wird.
Meisterschaft und Progressivität – sie verbinden sich bei ihm tatsächlich, worin auch ein gewisser Widerspruch liegt. Denn nachdem er in den 1950er-Jahren den Grundstein für das serielle Komponieren mitbehauen hatte – und eigentlich schon in dieser Phase –, kam bei Boulez ungleich mehr Brillanz und Virtuosität zutage als bei seinen Altersgenossen.
Sinnlichkeit, Lust am Effekt und manchmal auch Routine verbanden sich bei ihm mit anhaltendem Interesse für Experimente. Das zeigte sich auch an jenem Abend, an dem das ganze Werk für Klavier solo erklang, seinerseits ein Husarenritt, auch wenn diese gigantische Aufgabe von zwei Per- sonen bewältigt wurde. PierreLaurent Aimard und Tamara Stefanovich haben sich seit Jahren dem Schaffen von Boulez verschrieben, und sie nähern sich diesen pianistisch wie interpretatorisch anspruchsvollen Werken an, als sei das die natürlichste Sache der Welt.
Im Mozart-Saal konnte man das schon daran merken, wie sie über diese Musik sprachen: ebenso bilderreich, wie das der Komponist selbst getan hatte, mit emotiona- len Metaphern und verwegenen Vergleichen, wenn etwa Stefanovich die Wiedergabe eines Stücks von Boulez mit dem Manövrieren über eine Autobahn auf dem Balkan in Verbindung brachte.
Das weitgehend chronologisch angelegte Programm ließ die gigantische Entwicklung des Komponisten nachvollziehen: von den noch stark an der Wiener Schule orientierten, gleichwohl originellen, mikroskopisch konzentrierten Douze Notations bis zu den jüngsten Stücken um die Jahrtausendwende: Incises ist wie eine durchgeknallte, rasende Toccata, die von Stefanovich blendend realisiert wurde – mit einem ähnlich stringenten Zugriff, wie ihn auch Aimard an den Tag legte: am eindringlichsten bei der Sonate Nr. 3, in der sich der Interpret seine eigene Version schafft. Der Pianist bewerkstelligte es da wie nebenbei, seine Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und zugleich als stimmig erscheinen zu lassen.
Boulez selbst meinte einmal, es sei ihm nach der seriellen Phase darum gegangen, wieder zu „Spontaneität, Ausdruck und Freiheit“zu finden: All das war bei Aimard und Stefanovich omnipräsent: in besonderer Weise bei Structures II, wo sie wie bei einem PingpongSpiel mit vollem Risiko interagierten und dabei plastische Gestik und expressive Lebendigkeit ebenso realisierten wie den Eindruck ständiger Gegenwärtigkeit der Klanggestalten. Ein Abend des Glücks voller Schönheit der Dissonanz.