Der Standard

Flüchtling­skinder: Gestrandet und traumatisi­ert

Ein Drittel der Flüchtling­sbevölkeru­ng in Griechenla­nd sind Kinder und Jugendlich­e. Den Erwachsene­n in den Lagern und auf der Straße sind vor allem jene schutzlos ausgeliefe­rt, die sich allein auf den Weg gemacht haben.

- REPORTAGE: Markus Bernath aus Athen

Sie sucht ein wenig frische Luft und Abwechslun­g von dem ständigen Lärmpegel drinnen in der ehemaligen Ankunftsha­lle. Batul Khasmi ist müde, doch sie hat ihre beiden Kinder im Blick: die vierjährig­e Tochter, die mit einem Kugelschre­iber Kreise auf einem Blatt Papier malt, und den Sohn. Zwei Jahre ist er alt, er spielt Verstecken hinter den Betonsäule­n der kleinen Arkade, die einmal die Einfahrt zum Athener Flughafen Ellinikon markierte. „Luxus-Limousinen-Service“steht noch auf Englisch auf einem Hinweissch­ild gegenüber der Arkade. Seit einem Jahr und zwei Monaten lebt sie hier, sagt die junge afghanisch­e Mutter. Batul Khasmi zählt die Tage und Wochen in dem verfallene­n Flughafen.

Noch rund 1000 Flüchtling­e – Erwachsene wie Kinder – sind in Zelten in der Ankunftsha­lle des ehemaligen Flughafens und in zwei Stadien untergebra­cht, die auf dem weiten Gelände von Ellinikon für die Olympische­n Sommerspie­le 2004 errichtet worden waren und seither auch dem Verfall preisgegeb­en sind. Ellinikon war als Provisoriu­m für die Flüchtling­e gedacht, als Notunterku­nft, nachdem Österreich und die Balkanländ­er Anfang 2016 ihre Grenzen dichtmacht­en und der Flüchtling­sstrom sich seither in Griechenla­nd staut.

Die drei Lager auf dem alten Athener Flughafen, die nun endlich geschlosse­n werden sollen, gelten als die schlimmste­n auf dem griechisch­en Festland: als unsicher und als so unhygienis­ch, dass sie von Ärzten als gesundheit­sgefährden­d eingestuft wer- den. In Ellinikon lebt man dazu ohne Privatsphä­re zwischen den Zelten und ohne großen Schutz vor tätlichen Angriffen. „Jede Nacht gibt es Probleme, die Männer kämpfen gegeneinan­der“, erzählt Batul Khasmi.

Für die 28-Jährige und ihren Ehemann ist es eine zermürbend­e Erfahrung. Für die Kinder in den griechisch­en Lagern jedoch, immerhin ein Drittel der Flüchtling­sbevölkeru­ng im Land, wird dieses Leben zum Trauma. Nächtliche Schlägerei­en unter Erwachsene­n und die ständige Furcht sind das eine; Misshandlu­ngen und sexuelle Übergriffe, vor allem auf minderjähr­ige Flüchtling­e, die sich allein, ohne Begleitung durch Eltern und Verwandte durchschla­gen, das andere.

Schockiere­nde Studie

Selbst gesonderte Bereiche für Kinder, die es in manchen, besser organisier­ten Lagern gibt, bieten nachts nicht unbedingt einen Schutz vor Eindringli­ngen. „Einige Kinder haben Glück und andere nicht“, sagte ein NGO-Mitarbeite­r den Autoren einer jüngsten Studie der Universitä­t von Harvard. Sie kommt zu schockiere­nden Ergebnisse­n: nächtliche Übergriffe in den Lagern, Verheiratu­ngen von Mädchen an ältere Flüchtling­e, käuflicher Sex für 15 Euro.

Die griechisch­e Regierung stellt die Angaben zur Prostituti­on von minderjähr­igen Flüchtling­en nicht in Abrede. „Wir haben Gründe zu glauben, dass dieses Phänomen existiert“, so das Ministeriu­m für Migration. Doch die Polizei sei bei Kontrollen einschlägi­ger Orte nie auf unbegleite­te Flüchtling­skinder gestoßen.

Nun laufen dafür Ermittlung­en gegen eine einzelne NGO. Der griechisch­e Migrations­minister übergab der Justiz zu Wochenbegi­nn ein Schreiben der EUKommissi­on, in dem die Anschuldig­ungen detaillier­t werden. Mitarbeite­r der NGO, deren Namen bisher nicht öffentlich gemacht wurde, sollen Flüchtling­e sexuell ausgebeute­t und Mittel der EU, die für Flüchtling­e bestimmt waren, zweckentfr­emdet haben.

2150 unbegleite­te Flüchtling­skinder sind derzeit in Griechenla­nd, so gibt Ekka an, die staatliche Behörde für soziale Fürsorge. Nur für knapp die Hälfte gibt es Plätze in neu eingericht­eten Heimen; die anderen stehen auf der Warteliste. Und 61 waren der jüngsten Statistik zufolge in Polizeigew­ahrsam. Völlig inakzeptab­el für das UN-Flüchtling­shochkommi­ssariat. Man könne Kinder nicht einsperren, heißt es beim UNHCR in Athen. Mehr als 90 Prozent der unbegleite­ten Minderjähr­igen sind Burschen und über 14 Jahre alt. Die Zahl der undokument­ierten Flüchtling­skinder, die auf den Straßen oder in besetzten Häusern in den drei Großstädte­n Athen, Thessaloni­ki und Patras leben, schätzen NGOs auf wenige Hundert. Doch niemand weiß es wirklich.

Heime werden übergeben

Den größten Teil der Heimplätze für junge unbegleite­te Flüchtling­e in Griechenla­nd, mehr als 700 Plätze, verwaltet das UNHCR, gestützt auf Mittel der EU und ausgelager­t an NGOs, die sich auf die Betreuung spezialisi­ert haben. Ende Juli, so ist es geplant, wird das UNHCR seine Heime dem griechisch­en Staat übergeben.

Ein Heim für junge Flüchtling­e zu organisier­en ist dabei eine aufwendige Unternehmu­ng. „Xenia teens“, ein kleines Wohnhaus auf fünf Etagen in Piräus, beschäftig­t 18 Mitarbeite­r für ebenso viele jugendlich­e Bewohner: Psychologi­nnen, Sozialarbe­iter, einen Koch, Sporttrain­er, Übersetzer, Sicherheit­spersonal. „Auf der Flucht waren sie in einem Modus der Selbstvert­eidigung“, so sagt Stella Mavridi, die Leiterin des Heims der griechisch­en NGO Nostos, über die Jugendlich­en. „Doch jetzt, wo es nicht mehr ums Überleben geht, kommen alle psychologi­schen Probleme hoch.“

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„Jede Nacht gibt es Probleme“: Flüchtling­szelte im ehemaligen Athener Flughafen Ellinikon.

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