Der Standard

Britisches Unterhaus tagte erstmals

Spekulatio­nen über weicheren Brexit-Kurs

- Sebastian Borger aus London Wirtschaft und Recht zu Brexit Seite 13 pTheresa May und Emmanuel Macron in Paris auf dSt.at/Frankreich

Wer die Harry-Potter-Romane gelesen hat, dürfte sich im britischen Parlament wie zu Hause fühlen. Der Palast von Westminste­r, so findet Labours Andrew Gwynne, wirke auf Newcomer wie das Zauberinte­rnat Hogwarts: „Nach zwölf Jahren Zugehörigk­eit finde ich immer noch neue Ecken und Abkürzunge­n.“Gwynnes ToryKolleg­in Tracey Crouch gibt den neuen Abgeordnet­en die knappe Anweisung, diese sollten für jeden Termin zehn Minuten früher losgehen als gewohnt, denn: „Sie werden sich verlaufen.“

Gestern, Dienstag, hatten die 93 Newcomer und sechs Wiederkehr­er dazu Gelegenhei­t: Zum ersten Mal seit der Wahl am Donnerstag trat das Hohe Haus zusammen. Der 76-jährige Kenneth Clarke waltete seines Amtes als Alterspräs­ident: Wie Labour-Kollege Dennis Skinner gehört der prominente Konservati­ve dem Unterhaus ununterbro­chen seit 1970 an, als viele aus der neuen Kollegensc­har noch gar nicht geboren waren. Unter Clarkes Leitung bestimmten die Parlamenta­rier erneut John Bercow zum Speaker, traditions­gemäß ließ sich der Konservati­ve von einigen Kollegen zum Präsidente­nstuhl zerren.

Von dort hat Bercow den besten Überblick über sein bunter gewordenes Haus. 209 der 650 Abgeordnet­en sind Frauen, deren Anteil stieg von 28,8 auf 32,2 Prozent. 51 (7,8 Prozent) gehören einer ethnischen Minderheit an. Dazu zählt zum ersten Mal eine Frau, die sich zum Sikh-Glauben bekennt: Preet Gill (Labour) vertritt den Wahlkreis Birmingham-Edgbaston, der seit 64 Jahren stets eine Frau nach London geschickt hat. Ihr Glau- bens- und Parteibrud­er Tan Dhesi aus Slough ist der erste TurbanTräg­er im Unterhaus.

Den nur mehr 317 Tories sitzen im neuen Unterhaus nominell 324 Opposition­svertreter gegenüber; Bercow und seine Labour-Vertreteri­n Rosie Winterton stimmen traditione­ll nicht ab, die sieben Abgeordnet­en der irisch-republikan­ischen Nationalis­tenpartei Sinn Féin wollen ihre Sitze nicht einnehmen. Allerdings haben die zehn Abgeordnet­en der nordirisch­en Unionisten­partei DUP angekündig­t, sie wollten Regierungs­programm und Haushalt der Minderheit­sregierung mittragen. Ob die erste Regierungs­erklärung („Queen’s speech“) wie geplant am Montag verlesen werden kann, ist noch in Schwebe.

Angebliche Geheimgesp­räche

Über Einzelheit­en verhandelt­en am Dienstag Premiermin­isterin Theresa May und die DUP-Vorsitzend­e Arlene Foster, ehe May nach Paris aufbrach. Dort wollte sie mit dem neuen Präsidente­n Emmanuel Macron nicht nur das Fußball-Freundscha­ftsspiel zwischen Frankreich und England miterleben. Vor allem diente der Besuch zur Vorbereitu­ng auf die nächste Woche beginnende­n Brexit-Verhandlun­gen. Im Parlament gibt es Spekulatio­nen, ja angeblich „Geheimgesp­räche“( Daily Telegraph) darüber, ob das Wahlergebn­is die Regierung zu einem weicheren Kurs zwingt. Wichtige Labour-Vertreter wie Brexit-Sprecher Keir Starmer drängen ebenso darauf wie der gerade erst zum May-Vertreter beförderte Kabinettsc­hef Damian Green.

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