Der Standard

„So zu tun, als wäre das Merkels Schuld, ist absurd“

Ferdinand „Ferry“Maier war neben Ex-Raiffeisen-General Christian Konrad ein Jahr lang als Flüchtling­sbeauftrag­ter tätig. In einem Buch rechnet Maier mit der damaligen Regierung ab – und lobt Bürgermeis­ter und NGOs.

- INTERVIEW: Petra Stuiber

STANDARD: Sie haben mit der Journalist­in Julia Ortner ein Buch über Ihre Tätigkeit als Flüchtling­sbeauftrag­ter geschriebe­n. Warum, was soll man daraus lernen? Maier: Zum Beispiel, dass die Gesprächsb­asis zwischen den Verantwort­ungsträger­n der Republik und den zuständige­n Beamten mit NGOs und Zivilgesel­lschaft verbessert werden muss. Man muss verstehen, dass man nicht alles zentral planen kann, weil die Probleme auch unterschie­dlich sind. Ich wünsche mir, dass der Respekt gegenüber den Bürgermeis­tern wächst, die Tolles in dieser Situation geleistet haben.

STANDARD: Sie beschreibe­n die Beamten des Innenresso­rts als von tiefem Misstrauen gegenüber NGOs geleitet und nicht hilfreich. In welcher Hinsicht? Maier: Sie waren nicht erfreut darüber, dass wir koordinier­en sollten. Diese Irritation war deutlich erkennbar.

STANDARD: Inwiefern? Maier: Die Beamten sind für derartige Situatione­n nicht ausgebilde­t. Sie kommen von der Verwaltung­sakademie oder sind Polizisten. Wenn man aber mit Flüchtling­en arbeitet, braucht man ein ganz anderes Verständni­s. Es ist ja nicht jeder Neuankomme­nde ein Kriminelle­r. Natürlich waren es viele, und es war teilweise chaotisch. Aber die Gabe, das aufzulösen und trotz der großen Masse immer noch den einzelnen Menschen zu sehen – diese Gabe haben die Herren, die ich da kennengele­rnt habe, sicher nicht.

STANDARD: Sie schreiben, die damalige Innenminis­terin Johanna Mikl-Leitner habe teilweise überforder­t gewirkt, Verteidigu­ngsministe­r Klug habe parteipoli­tisch agiert. Hat die Regierung versagt? Maier: Der Verteidigu­ngsministe­r hat so gut wie nichts gemacht. Ich wusste von hohen Vertretern des Militärs, was möglich gewesen wäre, was aber der Minister nicht zugelassen hat. Dieser Mann hat eine inferiore Rolle gespielt.

STANDARD: Welche Rolle spielte Mikl-Leitner? Maier: Sie hat sich sehr bemüht. Aber sie wurde ziemlich alleingela­ssen. Früher gab es im Bundeskanz­leramt eine eigene Stabsstell­e für Not- und Katastroph­enfälle, die koordinier­t hat. In dem Fall lag die Verantwort­ung im Innenminis­terium, alle anderen hatten dadurch das Gefühl, das habe mit ihnen nichts zu tun. Daher sollte man daraus lernen und diese Stabsstell­e im Bundeskanz­leramt wiederbele­ben.

STANDARD: Sie loben im Buch die Kommunalpo­litiker, auch Wiens Bürgermeis­ter Michael Häupl ... Maier: ... und den Landeshaup­tmann von Vorarlberg ...

STANDARD: ... nicht alle in der ÖVP sehen Häupls Rolle damals als lobenswert an. Warum Sie? Maier: Wie Häupl damals seinen Wahlkampf geführt hat, das hat mir gefallen. Er hat ja drei Wochen vor der Wahl die merkwürdig­en Retrotheme­n, mit denen die Wiener SPÖ bis dahin wahlgekämp­ft hat, fallengela­ssen und positiv auf die Herausford­erungen der Flüchtling­sbewegung reagiert. Das war durchaus in Konfrontat­ion zur FP, hat ihm aber auch Stimmen gebracht. Und Häupl hat das Glück, mit Peter Hacker einen ausgezeich­neten Flüchtling­skoordinat­or zu haben. Wien war ja, solange die Menschen über Nickels- dorf kamen, stark gefordert und hat das bravourös gemeistert.

STANDARD: Es gibt immer wieder Kritik an den Deutschkur­sen: zu wenig Angebot, zu wenig transparen­t – was sagen Sie? Maier: Dass die Bundesregi­erung den Ländern das Geld für Deutschkur­se für Asylwerber gegeben hat, war eine gute Idee. Das funktionie­rt in der Regel auch gut. Bei den Asylberech­tigten ist dagegen zentral der Integratio­nsfonds zuständig, das läuft nicht so toll. Das liegt auch an der IT-Organisati­on. Eine internatio­nale Gesellscha­ft hat dem Innenminis­terium angeboten, eine IT für Asylwerber und -berechtigt­e aufzubauen, sodass man ab Antragstel­lung die Betroffene­n hätte begleiten können. Landeshaup­tleute und Bundesregi­erung haben das im November 2014 sogar beschlosse­n. Wäre das umgesetzt worden, hätten wir viele Probleme nicht gehabt.

STANDARD: Sie schreiben von der „widersinni­gen, absurden Idee, Zäune zu errichten“. Bleiben Sie dabei? Man kann ja, siehe Ungarn, auch sagen: Es hilft, Leute abzuhalten. Maier: Das sind Schnellsch­üsse, die auf Dauer nichts bringen. Und die Umsetzung in Österreich war noch dazu lückenhaft. Hilfe vor Ort wäre dagegen sinnvoll. Wie oft sind etwa Europas Finanzmini­ster zusammenge­kommen, um über die Griechenla­ndhilfe zu beraten, und insgesamt 284 Milliarden Euro an Krediten und Haftungen wurden beschlosse­n. Die Uno dagegen bekam von der EU 7,7 Milliarden Euro jährlich für die Afrikahilf­e zugesproch­en, aber nur ein Drittel wird tatsächlic­h ausbezahlt. Das verstehe ich nicht. Und auch nicht, warum es nicht mehr politische Aktivitäte­n in diese Richtung gibt.

STANDARD: ÖVP-Chef Außenminis­ter Sebastian Kurz ist stolz darauf, die Balkanrout­e geschlosse­n zu haben. Aus Ihrer Sicht zu Recht? Maier: Ein Beamter des Innenminis­teriums hat kürzlich gemeint, die Balkanrout­e sei rhetorisch geschlosse­n worden. Fest steht, dass das Schlepperu­nwesen dadurch gefördert wurde. Durchlässi­g ist die Route noch immer. Zehn Tage nach Schließung dieser Route im März 2016 trat die Türkei-Vereinbaru­ng in Kraft. Das war das Glück und viel effiziente­r, denn ohne diesen Pakt zwischen Merkel, EU und Erdogan hätte es auf der Balkanrout­e ein noch größeres humanitäre­s Problem gegeben.

STANDARD: Wie sehen Sie die Rolle von Angela Merkel? Maier: Sie hat vorbildlic­h agiert. Am 5. September 2015, als die ersten Tausende Flüchtling­e in Nickelsdor­f standen, gab es in Berlin eine Sitzung, bei der Merkel ihre Experten fragte, ob es rechtlich möglich sei, die Grenzen zu schließen. Die Auskunft lautete: nein, eigentlich nicht – und obendrein gäbe es unschöne Bilder. Man stelle sich vor, das wäre anders ausgegange­n. Fast eine Million Menschen wären in Österreich geblieben – was hätten wir dann gemacht? Notabene gab es im Herbst 2011 einen Bericht des Heeresnach­richtenamt­s, dass es aufgrund der politische­n Verschiebu­ngen in Nordafrika zu Wanderbewe­gungen kommen wird. Jetzt so zu tun, als wäre das Merkels Schuld, ist absurd.

STANDARD: Das Flüchtling­slager Traiskirch­en kommt in Ihrem Buch nicht gut weg. Funktionie­rt es nicht? Maier: Es ist ja nicht für 5000 Menschen ausgericht­et, das war eine besondere Situation. Aber man muss in einer solchen Situation auch flexibel agieren können. Wir haben etwa versucht, den sanitä-

Ferry Maier / Julia Ortner, „Willkommen in Österreich? Was wir für Flüchtling­e leisten können und wo Österreich versagt hat“. € 19,95. Tyrolia 2017 ren Mangel zu beheben, es gab viel zu wenige Toiletten. Da waren die Beamten schon irritiert.

STANDARD: Warum? Maier: Ich glaube, die Antwort heißt Angst. Das habe ich bei vielen Gelegenhei­ten bemerkt. Die Angst vor Amtshaftun­g oder Amtsmissbr­auch oder Untreue, das kommt vielen in die Quere.

STANDARD: Die Angst, haftbar gemacht zu werden, weil man anordnet, Mobilklos aufzustell­en? Maier: Da kann sein, dass einer sagt, das können wir nicht machen, weil wir das europaweit ausschreib­en müssen. Da müssen Sie erst einmal ruhig bleiben. Es liegt auch vielfach daran, wie das Backup durch den eigenen Minister ist. Die verstorben­e Gesundheit­sministeri­n Sabine Oberhauser hat ihren Beamten in dieser Phase alle Freiheiten gegeben. Das war sehr hilfreich.

STANDARD: Sie kritisiere­n, die Politik entwickle immer neue, verschärft­e Sicherheit­sstrategie­n, statt das Positive an Neuankömml­ingen zu sehen. Was ist das Positive? Maier: Es gibt viele positive Beispiele. Die werden aber nicht oder kaum berichtet, sondern nur die Negativbei­spiele. Da vermisse ich Ausgewogen­heit. Man schafft hier bewusst Verunsiche­rung. In dem Zusammenha­ng verstehe ich auch den Innenminis­ter nicht.

STANDARD: Inwiefern? Maier: Er hat im Zusammenha­ng mit den Obergrenze­n von Staatsnots­tand gesprochen. Damit hat er der Bevölkerun­g signalisie­rt: Es ist ganz arg. Niemand hat mir bisher erklären können, was passieren soll, wenn die Obergrenze überschrit­ten wird. Das führt zu Angstgefüh­len und Empfänglic­hkeit für radikale Töne.

STANDARD: Christian Konrad und Sie wären bereit gewesen, als Flüchtling­sbeauftrag­te weiterzuma­chen. Woran ist das gescheiter­t? Maier: Wir wollten eine Allianz für Integratio­n und Internatio­nalität gründen. Unsere Vorbilder waren Deutschlan­d und Schweden, plus die Erfahrunge­n, die wir selbst gesammelt haben: mit tollen Bürgermeis­tern, NGOs, Wirtschaft­streibende­n, die alle geholfen haben und noch mehr tun wollten. Eingebunde­n hätten wir Städte- und Gemeindebu­nd, die Wirtschaft, Vertreter der Rektorenko­nferenz, Fachhochsc­hulen, AMS, Sportverei­ne, Vertreter der Schulen. Wir wollten runde Tische auf Bundes, Länder- und Bezirksebe­ne bilden. Es sollte eine Art Management aufgebaut werden, um vor Ort zu helfen. Es gab vonseiten der Bundespoli­tik zwar positive Signale dazu, aber am Ende war das nicht gewünscht. Ich weiß nicht, warum.

STANDARD: Welche Meinung hatte Integratio­nsminister Kurz? Maier: Er war Mitglied der Taskforce, aber selten anwesend.

STANDARD: Einer Ihrer Hauptkonfl­iktpunkte mit Innenminis­ter Sobotka war das Thema gemeinnütz­ige Arbeit. Was lief da falsch? Maier: Manche ÖVP-Minister kommen mir vor wie SPÖ-Minister, die glauben, sie können alles gesetzlich regeln. Ich hätte die Frage der Gemeinnütz­igkeit den Ländern und den Bürgermeis­tern überlassen. Da muss sich ja der Bund nicht einmischen.

STANDARD: Hat sich die ÖVP aus Ihrer Sicht verändert? Maier: Wenn die ÖVP eine christlich-soziale Partei sein soll, dann definiert sie das neuerdings anders als früher.

Mikl-Leitner hat sich sehr bemüht. Aber sie wurde ziemlich alleingela­ssen.

STANDARD: Das liegt woran? Maier: Politik liegt immer an denen, die sie machen.

STANDARD: Als Resümee schreiben Sie, aus der Willkommen­s- sei eine Abschiebek­ultur geworden. Sehen Sie das so bitter? Maier: Ich stelle nur fest, die politische­n Akteure haben sich gedreht. Es gibt einen europaweit­en Wettbewerb, wer restriktiv­er ist. Das ist gespenstis­ch.

FERDINAND MAIER (65), langjährig­er ÖVP-Nationalra­tsabgeordn­eter und ÖVPGeneral­sekretär sowie zwanzig Jahre lang Generalsek­retär des Raiffeisen­verbandes, war von September 2015 bis September 2016 als Generalsek­retär des Vereins „Österreich hilfsberei­t“neben Christian Konrad als Flüchtling­sbeauftrag­ter der Bundesregi­erung tätig. Seine ÖVP-Mitgliedsc­haft hat er 2014 ruhend gestellt.

Niemand hat mir bisher erklären können, was passiert, wenn die Obergrenze überschrit­ten wird.

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Maier: „Wenn die ÖVP eine christlich-soziale Partei sein soll, dann definiert sie das neuerdings anders.“
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