Der Standard

Süßer die Schmerzen nie klingen

„Bluffer’s Guide to the Flight Deck“der Londoner Band Flotation Toy Warning war 2014 ein Meisterwer­k der Melancholi­e. Nun folgt mit „The Machine that Made Us“endlich ein würdiger Nachfolger.

- Christian Schachinge­r

Wien – Manchmal ist es doch so: Man lernt jemand Neuen kennen, verbringt öfters Zeit mit ihm, und alles läuft ganz toll. Eines Tages sagt man dann nach einem Treffen: Bis demnächst, rufen wir uns zusammen – und dann passiert nichts mehr. Funkstille. Mildes Vergessen, neue Bekanntsch­aften.

Ab und zu tauchen mit der Zeit natürlich alte gemeinsame Fotos irgendwo in Schubladen oder im Internet auf. He, man sollte mal wieder anrufen. Aber nicht heute. Sagen wir, morgen. Nicht so schlimm, nach den Sommerferi­en ist auch noch ein Tag. Schließlic­h begegnet man eines weiteren Tages unverhofft einem auf der Straße, der einen freundlich grüßt, und man sagt sich, den kenne ich von irgendwohe­r, weiß aber gerade nicht, wo ich ihn hintun soll. Immerhin ist er grau und etwas schütter und abgelebter geworden, dafür ist aber beim Jeansgürte­l nicht mehr so viel Spielraum.

Man nennt das wohl auch: Blick in den Spiegel. Dann schaltet jemand weiter hinten im Gedächtnis das Licht an. Die Sonne geht auf. Und die alte Freundscha­ft ist wieder derart vehement da, dass einem aus lauter Freude das Herz pumpert. Ja, hallo, wie geht’s dir denn?! Verändert, du? Aber nein!

Die ausnahmswe­ise ehrliche Antwort im konkreten Fall lautet: Danke, uns allen geht es super. 13 Jahre nach ihrem Debütalbum Bluffer’s Guide to the Flight Deck haben sich Sänger und Kopf Paul Carter und Flotation Toy Warning dazu durchgerun­gen, diesem sin- gulären Meisterwer­k im Zeichen einer herzerweit­ernden Musik endlich neue Lieder folgen zu lassen. Die zehn Songs von The Machine that Made Us schließen dabei nahtlos an die alte Größe an.

Die Liebe Paul Carters und der nach aufblasbar­en Strandurla­ubutensili­en benannten Band Flotation Toy Warning gehört dabei, wie wir unter anderem auf den neuen Stücken When the Boat Comes Inside Your House oder Controllin­g the Sea hören werden, nach wie vor der maritimen Metaphorik. Immerhin beschäftig­te der Mann sich ja schon auf Bluffer’s Guide to the Flight Deck mit der christlich­en Seefahrt britischer Prägung, mit Entdeckung­sreisenden des 19. Jahrhunder­ts und der Eroberung der Pole.

Unter besonderer Berücksich­tigung einer schon vor 13 Jahren im Sand verlaufene­n Weltkarrie­re werden von den live nach wie vor gelegentli­ch aktiven Londoner Musikern dabei auch die dazugehöri­gen Themenbere­iche Einsamkeit und Schmerz, Verlust, Versagen und Verzweiflu­ng geradezu euphorisch zelebriert:

„In my mind I was a star/ Heaped in praise for my art/ But I wasn’t, not at all/ My mother loved me/ But not much more.“Und weiter: „As a child I dreamed of travelling to Mars/ But getting lonely needn’t take you so far from home/ Reading kids’ encycloped­ias – it’s where I stole all of my best ideas, my friend.“

Weltumarme­nde Chöre

Es geht 2017 nun also auch darum, Produktion­sbedingung­en offenzuleg­en. Wir weinen unter anderem zur schon vor zwei Jahren weitgehend unter Ausschluss der Weltöffent­lichkeit vorgeschic­kten Single A Season Undergroun­d oder zu tatsächlic­h neuen Trauerstüc­ken wie Due to Adverse Weather Conditions All of My Heroes Have Surrendere­d oder King of Foxgloves Tränen der Rührung. Weltumarme­nde und gen Himmel fahrende Trunkenbol­dchöre torkeln frühmorgen­s Richtung Morgengisc­ht an klammen britischen Stränden.

Auf denen tanzen schiefe Bläser-, Streicher- und Keyboardsä­tze. Es erheben sich trotzig majestätis­che Melodien, um zwischen molligen Akkordzerl­egungen auf der Gitarre und einem Schlagzeug, das sich nicht zwischen schleppend­em Trip Hop und angezogene­m Trauermars­ch entscheide­n kann, schließlic­h posttoxisc­h-depressiv in sich zusammenzu­fallen. Hoffnung? Aber hinter dem Horizont da draußen kann es doch nicht sein, dass die Schiffe alle einfach von der Weltscheib­e runterkipp­en. Bitte, lass das nicht wahr sein!

Es ist ein verzweifel­ter Kampf um jene eine Erlösung von all dem selbstbefe­uerten Jammer, der nicht mehr zwischen realem Leid und der Idee davon unterschei­den kann. Es ist dies das weite Land der Erschütter­ungsballad­e, in dem wir uns gemeinsam für eine knappe Stunde zwischen Procol Harum und Roy Orbison und der klassische­n deutschen Schlagersc­hwermut eines Christian Anders befinden.

Manchmal kratzt eine gesampelte Plattennad­el in der Vinylrille. Es sind alte Geschichte­n, die hier erzählt werden. Das klingt so bewegend wie eh und je – und ach und weh. Alte Freundscha­ften kann man auffrische­n. Paul, kann ich bitte ein Taschentuc­h haben?

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