„Lass es raus, damit es dich nicht frisst“
Mehr als 1000 Menschen haben bei den „Stadtrecherchen“für das antike Drama der „Orestie“mitgemacht. Am 25. Juni präsentieren sie im Burgtheater ihre Projekte, darunter auch Zombie-Rachefilme. Leiter Airan Berg, Rapperin Esra Özmen und Dramaturg Florian Hi
Wien – Tochter-, Gatten-, Muttermord. Und noch viel mehr. In Aischylos’ Orestie türmt sich im Namen der Rache Bluttat auf Bluttat. Antú Romero Nunes’ Inszenierung am Burgtheater zeigt dies in kompakten, eindringlichen Bildern. Aber haben Sie schon einmal eine Musicalversion dieser Trilogie gesehen? Diese gibt es im Haus am Ring ebenso zu erleben. Am 25. Juni präsentieren Teilnehmer der Offene-Burg-Initiative „Stadtrecherchen“ihre im Verlauf der Spielzeit entwickelten Projekte. Auch ein „Acoustic Shitstorm Klytaimnestra“ist dabei. Und auf Verwandlungswillige wartet eine Erinnyen-Schminkstation.
25 Künstler haben mit Menschen aus den Wiener Bezirken Floridsdorf und Donaustadt zu den Themen der Orestie gearbeitet. Es geht um „Empowerment“, sagt Leiter Airan Berg. Die „Stadtrecherchen“sollen den Spirit der Offenen Burg widerspiegeln, das heißt, Menschen ansprechen, die ihre Teilhabe am kulturellen Leben vertiefen wollen.
STANDARD: Welche Vereine oder Gruppen wurden für das Projekt ausgewählt? Und mussten sie alle die „Orestie“lesen? Berg: Natürlich! Nur die, die es gelesen haben, durften mittun! (lacht) Es sind organisierte Gruppen dabei, Chöre oder Jugendzentren, aber auch Einzelpersonen. Es gab aber kein Auswahlverfahren. Es gibt auch keinen Zwang zur Präsentation. Wir sind mit unterschiedlichen Workshopangeboten aus verschiedenen Kunstsparten in die beiden Bezirke gegangen, um herauszufinden, was Menschen an den Themen der Orestie interessiert. Rund 1000 Menschen haben mitgemacht, 300 werden am 25. Juni vor Ort sein.
STANDARD: Warum „Die Orestie“? Hirsch: Wir bieten zum einen am Burgtheater derzeit einen Antiken-Schwerpunkt an, zudem ist die Orestie ein zentrales Werk der Welt- und Theaterliteratur. Sie ist die letzte erhaltene antike Tragödientrilogie und behandelt Themen, die heute noch virulent sind: Familie, Rache, Krieg, das Stück war ja so eine Art Stiftungsfest der Demokratie. Berg: Der Chor in der griechischen Tragödie ist ja die Stimme des Volkes. Im Grunde stellt also jetzt der große Chor der Bevölkerung die Reflexion auf die Hauptthemen einer Spielzeit an. Rache hat vor allem die jungen Teilnehmer interessiert: Acht ZombieRachefilme wurden gedreht.
STANDARD: Warum gibt es mehrere Kunstformen? Berg: Theater war immer schon eine Mischung aus verschiedenen Disziplinen; Rapper und Rapperinnen sind dabei, bildende und Medienkünstler/-innen, Filmemacher/-innen, Tänzer/-innen.
STANDARD: Warum Transdanubien? Man könnte als Meidlinger oder Osttiroler eifersüchtig werden. Hirsch: Osttirol wäre logistisch eine zu große Herausforderung.
STANDARD: Ja, aber auch dort wohnen Steuern zahlende Bürger. Berg: Wir sind erst am Beginn einer Reise. Die wird uns vielleicht auch nach Osttirol bringen. Transdanubien war für uns deshalb so interessant, weil die beiden Bezirke mit über 300.000 Bürger und Bürgerinnen die zweitgrößte Stadt des Landes ergeben würden, größer als Graz. Diese hätte aber bei weitem nicht die entsprechende kulturelle Infrastruktur. Zudem sind die Bezirke die am schnellsten wachsenden. Diesem Spannungsfeld mitsamt der Diversität der Bevölkerung galt unser Interesse. STANDARD: Esra Özmen, Sie haben gemeinsam Rap-Workshops geleitet. Wo treffen Rap und „Orestie“zusammen? Özmen: Für mich war es zunächst mal eine irre Erfahrung zu sehen, wie weit weg der Stadtrand von Wien liegt. Wir sind eineinhalb Stunden mit dem Bus nach Hirschstetten gefahren und waren dann immer noch nicht da! Links und rechts ist Land, und in einer Ecke liegt dann das Jugendzentrum. Ich habe die Orestie vorher nicht gekannt, und auch die Workshopteilnehmer kannten sie nicht. Aber die Themen haben sofort alle angesprochen. Es wurde sehr emotional, wenn wir über Familie und Krieg gesprochen haben. Die Leute haben sich voll geöffnet, haben in manchen Phasen auch unangenehme Erinnerungen herausgelassen.
STANDARD: Was vermittelt Rap?
Özmen: Für mich ist Kunst auch wie Therapie. Also, lass es raus, damit es dich nicht frisst! Dieses Material haben wir weiterverarbeitet. Wir haben Stichwörter zur Orestie gesammelt, Reimarten diskutiert, aber auch die Geschichte des Hip-Hop erklärt, seine Entwicklung als Widerstandsbewegung: politische Erfahrungen teilen, sich mit der eigenen Stimme als Teil der Gesellschaft positionieren. Rap macht ja Menschen sichtbar, die im Schatten leben.
STANDARD: Unter die Transdanubier mischen sich auch Ensemblemitglieder, die assoziative Texte lesen. Welche? Hirsch: Aus allen Epochen. Wenn es um das Thema Krieg geht, fällt mir etwa sofort Joseph Roth ein, beim Thema Familie Joan Didion oder John Updike, und Shakespeare ist natürlich eine Fundgrube für Rachegeschichten. Fabian Krüger wird z. B. die Orestie in zehn Minuten nacherzählen.
STANDARD: Wichtige Station! Hirsch: Die Dionysien des antiken Theaters, zu denen sich die Bevölkerung getroffen hat, um den Dichterwettbewerben zu lauschen, waren ja auch Termine, an denen eine Stadt über sich selbst nachgedacht hat. Eine Stadtgesellschaft hat sich vor Augen gehalten, was war, was ist, was wird kommen. Genau das ist auch der Kern der „Stadtrecherchen“. Berg: Damals wurden Menschen dafür bezahlt, ins Theater zu gehen (und trotzdem nicht ihren Job zu verlieren), um an diesem gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen zu können. Da ist unser Subventionssystem weit hinten!
STANDARD: Immerhin gibt es am 25. Juni freien Eintritt! Berg: Stimmt. Apropos Finanzen: Der Verein kültüř gemma! hat es über ein Stipendium ermöglicht, dass Esra Özmen und Betül Küpeli bei uns mitarbeiten können. Es ist ein wesentlicher Gedanke der „Stadtrecherchen“, nicht nur „Altösterreicher“anzusprechen.
STANDARD: Was war denn bei dem Projekt die größte Überraschung? Özmen: Mich hat sehr überrascht, was die Jugendlichen draufhaben und wie hoch die Aufmerksamkeit war. Die sind uns förmlich angesprungen, als sie hörten, wir wollen Rap machen. Einmal waren wir im 21sten weit draußen, nur wenige Jugendliche kamen. Aber innerhalb von Minuten haben die sich connected, und das Jugendzentrum war bummvoll. Dann haben sie eine irre Show abgeliefert.
AIRAN BERG war Kodirektor des Schauspielhauses Wien und hat u. a. das Schauspielprogramm bei Linz09 verantwortet. Seit 2016 ist er Leiter der „Stadtrecherchen“am Burgtheater. ESRA ÖZMEN studiert Rechtswissenschaften, ist Rapperin, gibt Workshops und tritt als EsRAP gemeinsam mit ihrem Bruder Enes auf. FLORIAN HIRSCH ist seit 2011/12 Dramaturg am Burgtheater und für die Literaturauswahl der „Stadtrecherchen“am 25. Juni verantwortlich.
Bei den Dionysien hat sich eine Stadtgesellschaft vor Augen gehalten, was war, was kommt. Das ist auch der Kern der ‚Stadtrecherchen‘. Florian Hirsch Für mich war es irre zu sehen, wie weit weg der Stadtrand von Wien liegt. Wir fuhren eineinhalb Stunden und waren immer noch nicht da. Esra Özmen Im Grunde stellt jetzt der große Chor der Bevölkerung eine Reflexion auf die Hauptthemen einer Spielzeit am Burgtheater an. Airan Berg