Der Standard

Das wahre Krebsgesch­wür

Schleppere­i ist nicht das Grundübel, sondern das Symptom des Problems

- Kim Son Hoang

Als Krebsgesch­wür wird Schleppere­i oft bezeichnet. Mit den Symptomen Erpressung, Folter, Ausbeutung, bis hin zum kaltblütig­en Mord, den Schleuser an ihren Kunden begehen, wenn diese nicht bezahlen können. Es gibt viele gute Gründe, dieser These des Krebsgesch­würs Schleppere­i anzuhängen, und viele tun das auch. Man denke nur an das Mittelmeer, an die Grenze zwischen den USA und Mexiko, an andere Hotspots wie Afghanista­n oder Myanmar (Burma) mit seiner muslimisch­en Minderheit der Rohingya; überall breitet es sich aus. 2015 wurden zwischen 4,6 und sechs Milliarden Euro mit Schleppere­i umgesetzt – allein in Europa. Doch die These ist falsch, und daher auch die vermeintli­che Therapie.

Schleppere­i ist, etwas zynisch ausgedrück­t, die beste Jobgelegen­heit für jene, die es mit Gewissen und Gesetz nicht so genau nehmen. Dort, wo der Staat versagt, etwa im hochchaoti­schen Libyen, kann der arme Fischerbur­sch von nebenan mühelos sein Einkommen um das Mehrfache aufbessern, indem er sein Boot für andere Zwecke verwendet. Wer kann es ihm verdenken?

Schleppere­i ist also nicht das Krebsgesch­wür; das ist Armut an sich, es sind Kriege, die mehr und mehr Not und Elend auslösen. Schleppere­i ist die Nebenwirku­ng, die auftritt, wenn Menschen um ihr Leben bangen oder einfach eine Chance auf eine Zukunft haben wollen. Das klingt banal und sollte eigentlich bekannt sein, ist aber in den Köpfen vieler Entscheidu­ngsträger noch immer nicht angekommen, die glauben, allein verstärkte Grenzsiche­rung, die Zerstörung von Schlepperb­ooten oder das Hochziehen von Mauern könnte das Problem lösen. Das zerstört nicht Schleppere­i, ganz im Gegenteil, das fördert sie. Denn wer braucht schon Schleuser, wenn es keine Barrieren mehr gibt?

Kommt diese Botschaft endlich einmal in den Regierungs­gebäuden dieser Welt an, könnte man vielleicht aufhören, undurchdac­hte Ideen zu propagiere­n, die oft mit Wahlkämpfe­n einhergehe­n. Könnte man auch aufhören zu glauben, das Problem aussperren, isolieren zu können, und könnte aufhören, gegen Flüchtling­e und Migranten eine Wir-gegen-sie-Mentalität an den Tag zu legen. Laut Uno sind derzeit weltweit rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Das muss man akzeptiere­n, auch, dass es wahrschein­lich in Zukunft nicht weniger werden.

Gleichzeit­ig muss aber auch Hilfsorgan­isationen und Menschenre­chtsaktivi­sten gesagt werden, dass es ganz ohne Grenzsiche­rung nicht gehen wird. Dass es allein mit legalen Fluchtwege­n, die so oft gefordert werden, nicht getan ist. Dass die Forderung, Armut und Krieg in den Herkunftss­taaten zu beenden, nicht so leicht umzusetzen ist, wie sie oft behaupten.

Es ist ein langer Weg, um die hochkomple­xe Problemati­k um Flucht, Migration und in der Folge Schleppere­i in den Griff zu bekommen. Nicht einmal hochdekori­erte Experten können einen genauen Lösungsweg nennen, vielmehr dreht sich alles um einen groben Maßnahmenm­ix aus Armutsbekä­mpfung, Konfliktlö­sung, Zukunftsch­ancen, Resettleme­nt – und vor allem der Einsicht, dass ohne Solidaritä­t von allen Seiten nicht der Hauch einer Chance auf Besserung besteht.

Bis 2018 will die Uno einen „Global Compact of Migration“erarbeiten. Das Ziel dabei ist, einen weltweiten rechtliche­n Rahmen zum Umgang mit Migranten und Flüchtling­en zu erstellen. Es wäre ein Anfang.

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