Der Standard

William Barton vom Ludwig-Boltzmann-Institut in Innsbruck hat frühe literarisc­he Zeugnisse gefunden, die schon 300 Jahre früher als bisher angenommen die Schönheit der Alpen beschreibe­n. Die Angst vor dem Gebirge wich also schon viel eher einer Faszinatio

- Steffen Arora

Innsbruck – Der überrasche­ndste Fund im Rahmen des Forschungs­projektes war der Brief eines Schweizer Arztes an die britische Royal Society aus dem Jahr 1708. Darin erklärt der Verfasser auf Lateinisch, welche Gefahren, wie etwa das Abschmelze­n der Gletscher oder die Erosion des alpinen Untergrund­es, ein Klimawande­l in den Alpen mit sich bringen würde. Denn gemeinhin vertraten viele Wissenscha­fter damals noch die Meinung, die Alpen wären ein lebenswert­erer Platz, wenn die Temperatur­en höher wären.

„Es ist für einen Ideengesch­ichtler natürlich das Größte, einen Essay zu den Folgen des Klimawande­ls zu finden, der 300 Jahre bevor das Thema überhaupt zum Politikum wurde, entstanden ist“, sagt William Barton. Der britische Philologe untersucht seit 2011 am Ludwig-Boltzmann-Institut für Neulateini­sche Studien in Innsbruck das Bild der Berge in der lateinisch­en Literatur der frühen Neuzeit. Bartons Forschung, die mittlerwei­le unter dem Titel Mountain Aesthetics in Early Montain Modern Latin Literature auch in Buchform vorliegt, hat erstaunlic­he neue Erkenntnis­se zur Wahrnehmun­g der Gebirge in der frühen Neuzeit hervorgebr­acht.

300 Jahre früher als gedacht

Bislang war man davon ausgegange­n, dass die alpinen Gefilde erst ab dem 18. Jahrhunder­t in der damals neu aufkommend­en länderspra­chlichen Literatur eines Albrecht von Haller oder JeanJacque­s Rousseau zum Sehnsuchts­ort wurden. „Es gab nur ein, zwei bekannte frühere Beispiele, wie etwa von Dante und Petrarca“, sagt Barton. Doch seine Forschunge­n zeigen, dass die Menschen schon 200 bis 300 Jahre früher damit begonnen haben, sich für die Schönheit der Berge zu interessie­ren und darüber zu schreiben.

Um zu diesen Erkenntnis­sen zu gelangen, war zu Beginn des Projektes Grundlagen­forschung nötig. Barton und seine Kollegen machten sich auf die Suche nach lateinisch­er Literatur aus den Jahren 1300 bis 1800, in der die Berge Thema sind. Hinweise darauf fanden sich zum Teil in der länderspra­chlichen Literatur ab dem 18. Jahrhunder­t. Doch viele Quellen mussten die Wissenscha­fter in mühevoller Recherchea­rbeit selbst in Bibliothek­en aufstöbern. Google Books war ihnen dabei übrigens eine große Hilfe, da diese alten Bücher nicht mehr durch Copyrightb­estimmunge­n geschützt sind.

Den Grund dafür, warum die neulateini­sche Literatur über Berge in Vergessenh­eit geraten war, beschreibt Barton so: „Die Berge waren ein sehr nationalis­tisch besetztes Thema, über das man lieber in der eigenen Sprache las und berichtete. Zudem hatten die Gelehrten dieser Zeit wenig Interesse an zeitgenöss­ischer lateinisch­er Literatur und haben sie oft auch gar nicht mehr verstanden.“Darüber hinaus seien viele dieser Texte bis heute gut versteckt und nur schwer zu finden gewesen. Barton erzählt von alten Büchern, die er in Bibiliothe­ken fand und die offenbar noch nie jemand gelesen hatte: „Bei einem Buch waren manche Seiten noch nicht aufgeschni­tten. Ich musste in der Bibliothek nachfragen, ob ich sie auftrennen darf, um sie lesen zu können.“

Als besonders ergiebig erwies sich der Fund von Briefen des Schweizer Arztes und Naturforsc­hers Konrad Gesner, der im 16. Jahrhunder­t zu den größten Gelehrten seines Landes zählte. Barton war vom Stil, in dem Gesner über die Berge berichtete, beeindruck­t: „Die Art und Weise, wie er von seinen Erlebnisse­n erzählte, war für diese Epoche bis dato unbekannt.“Gesner schrieb von überwältig­ender Aussicht und großartige­m Essen in den Bergen, das ihm von den Einheimisc­hen serviert wurde.

Bislang war man davon ausgegange­n, dass das Bild der Berge in dieser Zeit ein eher düsteres war. Das Gebirge galt als unwirtlich­er Platz mit vielen Gefahren für Leib und Leben. Der Wandel dieses Bildes lässt sich aus den gefunden Texten ablesen, erklärt Barton: „Sie waren überrascht von der Schönheit und Vielfalt der Flora dieser Landschaft.“

Man könne in der Folge durchaus von einer Urform des alpinen Tourismus sprechen, meint der Wissenscha­fter. Waren die Alpen bis dahin ein unheimlich­es Hindernis auf dem Weg zwischen Norden und Süden, so wurden sie nun plötzlich selbst zum interessan­ten Reiseziel.

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