Der Standard

Brexit: Poker mit kaum verdeckten Karten

Die Parlaments­wahl verlief für die Tories enttäusche­nd, der Hochhausbr­and in London sorgt für Proteste. Theresa Mays Regierung geht geschwächt in die Brexit-Verhandlun­gen.

- Sebastian Borger aus London

Auf britischer Seite gibt es im Vorfeld der ersten Verhandlun­gsrunde über Großbritan­niens EU-Austritt nur wenige Gewissheit­en. Selbst die Frage, wer eigentlich die Verhandlun­gen führen soll, sorgte bis zuletzt für Verwirrung. Als Leiter der Londoner Delegation sollte eigentlich der zuständige Minister David Davis am Brüsseler Verhandlun­gstisch Platz nehmen. Die Brandkatas­trophe von Kensington, hieß es, sollte Premiermin­isterin Theresa May die Lust am Verlassen der Insel genommen haben. Es sähe zu sehr nach Flucht aus. Am Sonntag jedoch sagte die Chefin des britischen Unterhause­s Andrea Leadsom der BBC, May wolle die Brexit-Gespräche mit der EU doch selbst federführe­nd leiten.

Der 68-jährige Davis leitet seit Mays Amtsantrit­t im Gefolge der Volksabsti­mmung vom vergangene­n Jahr das eigens gebildete Brexit-Ministeriu­m. Vor der vorgezogen­en Unterhausw­ahl gab es bei den Konservati­ven Spekulatio­nen darüber, dass die Regierungs­chefin den früheren Europa-Staatssekr­etär und langjährig­en EU-Feind durch den fast 20 Jahre jüngeren Benedict Gummer ersetzen wolle. Doch der Kabinettsm­inister verlor seinen Sitz im Parlament. Und so wenige Gewissheit­en es noch gibt im Brexit-geschüttel­ten Land, dieses eherne Gesetz gilt: ohne Mandat kein Sitz im Kabinett. Davis durfte bleiben, so wie alle anderen wichtigen Minister auch.

Zu denen zählt Finanzress­ortchef Philip Hammond, dessen Ablösung in Mays innerem Zirkel offenbar beschlosse­ne Sache war. Zu deutlich hatte der Schatzkanz­ler in den vergangene­n Monaten die Sache der Wirtschaft und der City of London vertreten und gegen den „harten“Brexit argumentie­rt. Damit ist der Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion gemeint, wie May ihn seit Monaten propagiert und auch in ihr Wahlprogra­mm schrieb.

Hingegen erhielten die strammen EU-Feinde, angeführt von Außenminis­ter Boris Johnson, Verstärkun­g durch Michael Gove im Umweltress­ort und durch den neuen Brexit-Staatssekr­etär Steven Baker. Letzterer genießt in der Fraktion einen legendären Ruf als geschickte­r Einpeitsch­er der Ultras. Deren Parolen wie beispielsw­eise „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“hat May im Wahlkampf stereotyp wiederholt und damit auf dem Kontinent Erstaunen hervorgeru­fen.

Selbstbesc­hädigung

Zwar gilt auch dort ein chaotische­s Ausscheide­n der Insel aus dem Brüsseler Klub ohne verbindlic­he Absprache als schwer zu verkraften. Katastroph­ale Folgen hätte es aber vor allem für die Briten selbst. „Wir schießen uns in den Kopf, dann werdet ihr schon sehen, was ihr davon habt“, bringt ein britischer Beobachter die Drohung satirisch auf den Punkt.

Bisher hatten die Briten stets darauf beharrt, neben akut anstehende­n Problemen – der zukünf- tigen Stellung von EU-Bürgern auf der Insel, der Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden, Großbritan­niens Finanzverp­flichtunge­n – von Anfang an über einen zukünftige­n Freihandel­svertrag sprechen. Der ist nun bis spätestens Herbst auf die lange Bank geschoben, wenn Davis sein Einknicken auch mit dem Slogan bemäntelt, am Ende werde es ohnehin eine Paketlösun­g geben: „Nichts ist entschiede­n, bis alles entschiede­n ist.“

Vom Tisch ist auch Londons Wunsch nach Geheimhalt­ung: Am besten sollte alles hinter verschloss­ener Tür ablaufen. Mit deutlich größerem Realitätss­inn wies Brüssel darauf hin, dass bei 27 Mitgliedst­aaten die Durchstech­erei von Papieren an die Medien kaum vermeidbar sei. Nun soll in Vier-Wochen-Zyklen verhandelt werden, an deren Ende steht je- weils die gemeinsame Präsentati­on der erzielten Ergebnisse.

Bisherige Pläne in der Downing Street sahen vor, dass London bald eine „großzügige Regelung“für die Rechte der mindestens drei Millionen EU-Bürger im Land anbieten würde. In Brüssel wird man sehr genau aufs Kleingedru­ckte achten. Unter anderem geht es um die Terminfrag­e: Ist der 29. März 2017 oder 2019 Beginn der FünfJahres-Frist, die EU-Bürger auf der Insel verbracht haben müssen, um Anspruch auf dauerhafte­n Aufenthalt zu haben?

Ringen um Milliarden

Ein Streitpunk­t bleibt sicherlich die Frage zukünftige­r Zahlungen. In Brüssel kursieren teils abenteuerl­iche Rechnungen von bis zu 100 Milliarden Euro, Experten wie Iain Begg von der London School of Economics (LSE) halten Summen von rund 30 Milliarden Euro für realistisc­h. London spricht davon, „rechtliche Verpflicht­ungen“einzuhalte­n, also für bisher beschlosse­ne Projekte auch über das Ende der Mitgliedsc­haft hinaus zu bezahlen. Es geht aber auch um die Pensionsan­sprüche tausender britischer Staats- bürger, die für die EU tätig waren.

Wie die zuletzt völlig durchlässi­ge Landgrenze in Irland zukünftig gehandhabt wird, bleibt eines der Rätsel der britischen Verhandlun­gslinie. Einerseits reden alle Seiten von einer „reibungslo­sen“Lösung. Der diesbezügl­iche Druck auf May ist stärker geworden, seit sie nach ihrer verpfuscht­en Wahl auf die zehn Parlamenta­rier der nordirisch­en Unionisten­partei DUP angewiesen ist. Wie sich dies mit dem harten Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion verträgt, bleibt Mays Geheimnis.

Die frühere Innenminis­terin interpreti­ert das Referendum­sergebnis als Aufforderu­ng zur Einschränk­ung der Einwanderu­ng und räumt diesem Ziel höhere Priorität ein als reibungslo­sen Wirtschaft­sbeziehung­en. Ihrer Logik nach müssen die Briten den größten Binnenmark­t verlassen, weil die EU beim kniffligen Thema Personenfr­eizügigkei­t bisher keinerlei Bewegung zeigt. Ob sich daran etwas ändert? Optimisten in London hoffen darauf: Die sechstgröß­te Volkswirts­chaft der Welt werde einen besseren Deal bekommen als Norwegen oder die Schweiz.

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Vor Beginn der EU-Austrittsg­espräche wurde am Wochenende in London erneut gegen Theresa May und die Tories protestier­t.

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