Der Standard

Deutsche Eltern können Verdiensta­usfall einklagen

Rechtsansp­ruch auf Kindergart­enbetreuun­g besteht seit 2013 – Dennoch fehlen fast 300.000 Plätze

- Birgit Baumann aus Berlin

Es ist nicht so, dass Claudia Menschel sich nicht bemüht hat. Schon kurz nach der Geburt ihres Sohnes Tobias im Jänner 2013 klapperte die Architekti­n aus Leipzig die Kindergärt­en ihrer Stadt ab, um den Nachwuchs später unterzubri­ngen. Schließlic­h wollte sie ab Jänner 2014 wieder ihrer Arbeit nachgehen.

Doch sie bekam den Platz für den Filius nicht rechtzeiti­g. Erst im März 2014 war es so weit. Bis dahin betreute sie Tobias zu Hause und hatte Verdiensta­usfall. Das wollte Menschel nicht hinnehmen und zog gemeinsam mit zwei anderen Familien vor Gericht.

Das Amtsgerich­t Leipzig bejahte zunächst einen Schadeners­atzanspruc­h, das Oberlandes­gericht Dresden widersprac­h. Das endgültige und damit wegweisend­e Urteil traf im Oktober 2016 der Bundesgeri­chtshof (BGH). Die Richter urteilten, dass Städte und Kommunen grundsätzl­ich den Verdiensta­usfall der Eltern bezahlen müssen, wenn sie zu wenige Betreuungs­plätze für Kleinkinde­r bereitstel­len.

Einen Rechtsansp­ruch für Kinder ab drei Jahren auf einen Kitaplatz gibt es in Deutschlan­d bereits seit 1996. Am 1. August 2013 kam auch noch der Rechtsansp­ruch auf Kinderbetr­euung für alle Kinder ab zwölf Monaten, die nach dem 31. Juli 2012 geboren wurden, dazu. „Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahr­es Anspruch auf frühkindli­che Förderung in einer Tageseinri­chtung oder in Kindertage­spflege“, heißt es im Gesetz.

Das federführe­nde Familienmi­nisterium erklärt dazu: „Damit sollen nicht nur berufstäti­ge, sondern bereits auch Arbeit suchende Eltern einen gesicherte­n Betreuungs­platz bekommen. Es fiel eine der letzten Hürden für Alleinerzi­ehende weg, die oft erst einen Arbeitspla­tz finden, wenn sie die Betreuung ihres Kindes gesichert haben.

So zumindest lautet die Theorie. Die Praxis jedoch sieht anders aus. Zwar haben Kommunen, Länder und auch der Bund in den vergangene­n Jahren viel Geld in den Ausbau von Betreuungs­plätzen gesteckt. Doch es fehlen in ganz Deutschlan­d nach Daten des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fast 300.000 Betreu- ungsplätze, wobei es große Unterschie­de zwischen den alten und den neuen Bundesländ­ern gibt.

In Westdeutsc­hland würden eigentlich 262.436 Betreuungs­plätze mehr für Kinder unter drei Jahren gebraucht, in Ostdeutsch­land müssten es nur 31.050 Plätze mehr sein. Es mangelt nicht nur an Räumlichke­iten, sondern vor allem an qualifizie­rtem Personal.

Gestiegene­r Bedarf

„Frühkindli­che Betreuung wird nicht mehr so negativ gesehen. Immer mehr Frauen wollen immer früher zurück in den Job, deshalb sind Familien früher auf Betreuung angewiesen“, erklärt der IW-Ökonom Wido Geis den gestiegene­n Bedarf. Bis 2020 läuft ein Investitio­nsprogramm, mit dem 100.000 neue Plätze geschaffen werden sollen.

Doch eine regelrecht­e Klagewelle hat die Städte und Gemeinden nach dem Grundsatzu­rteil vom Herbst 2016 nicht überrollt. Denn das Gericht erklärte, der Schadeners­atz für Verdiensta­usfall stehe Eltern nicht pauschal, sondern nur prinzipiel­l zu. Will heißen: nur wenn die Gemeinde wirklich gar nichts tut. Wird bloß der Kindergart­en nicht rechtzeiti­g fertig, geht der Bauträger pleite oder stehen nicht genügend Erzieherin­nen zur Verfügung, dann gehen die Eltern leer aus.

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Es ist eng in deutschen Kindergärt­en. Vor allem im Westen des Landes fehlen Betreuungs­möglichkei­ten für Kleinkinde­r.

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