Der Standard

Szenische Friedenspo­litik des großen Weisen

Peter Brooks „Battlefiel­d“als ingeniöser Abschluss der Wiener Festwochen im Museumsqua­rtier

- Ronald Pohl

Wien – Der blinde indische König Dritarasht­ra (Sean O’Callaghan) hat im soeben beendeten Bürgerkrie­g alle Söhne verloren: hundert an der Zahl. Sein Stock tastet in der Halle E des Museumsqua­rtiers über eine kahle, braune Stätte. Nur an den Wänden lehnen vereinzelt­e Bambusrohr­e.

Das grauenhaft­e Schicksal hat den Geist des Monarchen wie durch ein Wunder ungeschore­n gelassen. Dieser König Lear Nordindien­s hört die Maden durch die Leiber der Erschlagen­en kriechen. Aber sein Adjutant weiß den einzigen Rat, der seinem Herrn helfen kann, nicht den Verstand zu verlieren. Der Blinde soll den siegreiche­n Gegenkönig Yudishtira – obendrein ein Blutsverwa­ndter – verzeihend in die Arme schließen.

Peter Brooks szenisches Postskript­um Battlefiel­d ist auf den Grundton der Versöhnung gestimmt. Genau 30 Jahre nach dem vielstündi­gen Kriegsepos Mahabharat­a (1985) hat der große weise Mann des Welttheate­rs eine Meditation der Entsühnung ersonnen. Viele der verhandelt­en Sanskritmy­then sind zwei Jahrtausen­de alt. Sie handeln vom Skandal der Sterblichk­eit – manche von der viel größeren Zumutung, die Liebsten, die man auf Erden hatte, ungefragt überleben zu müssen.

Siege werden solcherart zu schmerzlic­hen Niederlage­n. Das weiß auch Yudishtira (Jared McNeill), der obendrein von seiner Mutter erfahren muss, sein getöteter Erzfeind, ein Kind des Sonnengott­es, sei sein Halbbruder gewesen. Es ist auf dieser archaische­n Wallstatt viel von „Wäldern“die Rede, von Würmern und Falken, vom Fleisch der Opfer und vom Getier, das sich daran mästet.

Doch der unterlasse­ne szenische Aufwand hemmt wirksam jeden Anflug von Bombast. Die Bußreden und Gleichniss­e sprudeln hell wie Gebirgswas­ser von den Lippen der vier Schauspiel­er. Battlefiel­d ist natürlich kein Stück im eigentlich­en Sinne. Erzählt wird von der (guten) Stunde danach, von der Leere, der Empfindung­slosigkeit nach der unüberbiet­baren Katastroph­e des Kollapses. Der Übergang in eine Friedensge­sellschaft ist nur möglich, indem man die Götter befriedigt und die Geister der Toten besänftigt.

Brook (92) übersetzt die kollektive­n Lähmungser­scheinunge­n in einprägsam­ste Gesten der Vereinzelu­ng und Vereinsamu­ng. Nie würde einer seiner Darsteller in die ihm vorgegeben­e Rolle „hineinschl­üpfen“. Der neutrale Klang der (englischen) Sätze und Sentenzen verbürgt die absolute Essenziali­tät aller Einsichten. Angeboten werden diese, ganz wie bei Bertolt Brecht, als Vorschläge. Diese ähneln Weisungen an das Einsichtsv­ermögen. Geschärft werden soll das Bewusstsei­n der eigenen Sterblichk­eit.

Angebot an Verunsiche­rte

Aus wenigen Handgriffe­n entstehen Figuren, durch das Schleifen eines Schals erwacht ein Wurm zum Leben. Peter Brooks Todesmedit­ationen sind ein betörendes Angebot: an das Festivalth­eater, das sein mediokres Programm mit etwas Theoriegek­lapper notdürftig aufputzt. An alle Verunsiche­rten, die für ihre Wutregunge­n keine(n) Adressaten wissen. Zum Schlagen der Handtromme­l von Toshi Tsuchitori wird man Zeuge des friedlichs­ten Königsdram­as seit Menschenge­denken.

Das Ergebnis ist ein hellauf begeistern­des Stück szenischer Abrüstungs­politik, textlich mitverantw­ortet von Marie-Hélène Estienne, importiert zu den Festwochen aus den Pariser Bouffes du Nord. Der Applaus war so erschütter­t wie begeistert. 19. 6. pwww. festwochen.at

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Unter dem Schutz seines Tuchs rüstet sich ein Sippenälte­ster (Ery Nzaramba) für sein letztes Stündlein: Mit einfachste­n Mitteln erzielt das Brook-Theater durchschla­gende Wirkung.

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