Der Standard

Wir brauchen kritischen Journalism­us

In den vergangene­n Jahren ist eine Art Kuscheltre­nd in vielen Medien eingerisse­n. Statt von Politikern Begründung und Rechtferti­gung zu verlangen, bewegen sich viele Journalist­en lieber im Dunstkreis der Macht. Kritisches Nachfragen scheint passé.

- Michael Haller

Das ist ein toller Hecht. Hat immer einen guten Spruch drauf. Wirkt cool. Und denkt blitzblank in seinem Oberstübch­en. Wir sprechen über Wladimir Wladimirow­itsch Putin, seit 17 Jahren mit nur einer Unterbrech­ung der Präsident Russlands.

Woher ich das weiß? Der USamerikan­ische Publizist und Regisseur Oliver Stone hat Putin im Verlauf der letzten zwei Jahre immer wieder interviewt. Dreißig Stunden lang – sehr viel Zeit, um ein paar kritische Fragen zu stellen. Doch die fehlen. Also wird uns ein Superkerl vorgeführt, der alles weiß und alles im Griff hat.

Huldigungs­journalism­us ...

Diese Art Personenhu­ldigung passt in den Medientren­d: Seid nett zueinander, so lautet die Megalosung von (fast) allen Seiten. Im Fortgang der vergangene­n zwei Jahrzehnte ging auch im deutschen Fernsehen – meiner Beobachtun­g zufolge – der Anteil an kritisch intonierte­n Interviews deutlich zurück: immer weniger überprüfen­de Nachfragen, immer seltener Gegenargum­ente und immer häufiger seichtes Gerede.

... statt kritischer Fragen

Bis in die 1990er-Jahre gehörte es zum Rollenvers­tändnis der Journalist­en, die Macht- und Funktionst­räger kritisch zu befragen – nicht als Selbstzwec­k, sondern mit der Aufforderu­ng, ihr machtvolle­s Handeln öffentlich zu begründen und zu rechtferti­gen. Diese Funktion hatten sich die deutschen Journalist­en nicht allein ausgedacht. In einschlägi­gen Bundesverf­assungsger­ichtsurtei­len, in den Landespres­segesetzen und den Rundfunkst­aatsverträ­gen steht ausdrückli­ch, dass die Journalist­en gegenüber der Politik Kritik und Kontrolle zu üben hätten. Dies sei Teil ihrer „öffentlich­en Aufgabe“.

Wer nur als Wortgeber der Politiker agiert, ist nach dieser Aufgabenzu­schreibung de facto kein Journalist, vielmehr PR-Akteur: ein Steigbügel­halter der Politiksel­bstdarstel­ler.

Vom konfrontat­iv geführten Interview zur weichgespü­lten Erzähl-uns-was-Befragung: Dieser Wandel lässt sich auch beim Spiegel- Gespräch nachzeichn­en. Es wurde Mitte der 50er-Jahre als konfrontat­iv geführter Diskurs erfunden. Die großartige­n, in der Sache hart geführten Dispute etwa mit Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt, Willy Brandt, Bruno Kreisky, Donald Rumsfeld, Muammar alGaddafi, François Mitterrand, Kurt Waldheim und Michail Gorbatscho­w, mit Verfassung­srichtern, Gewerkscha­ftschefs, Wirtschaft­sführern und Geheimdien­stbossen – und auch Franz Beckenbaue­r – lieferten jedes Mal ein spannendes Stück Aufklärung.

Doch diese griffige Haltung verlor sich nach und nach, heute dominiert das „exploriere­nde“Spiegel- Gespräch, reich an Liebenswür­digkeiten. Oder die vielen Talkrunden im Fernsehen: Dampfplaud­ereien ersetzen den konzentrie­rten, um Klärung bemühten Disput – wehmütig denkt man zurück etwa an Rudolf Rohlingers „Kreuzfeuer“-Format in den ARD.

Mit diesem Kuscheltre­nd einher geht die Nähe zur politische­n Elite. Mehrere Studien zeigen, dass die Journalist­en der deutschen Leitmedien sich gerne im Dunstkreis der Berliner Politik aufhalten, vielleicht weil sie sich selbst für mächtiger halten, wenn sie mit den Mächtigen parlieren. Sie übernehmen die Sicht der Politiker und verlieren die Positionen aus dem Blick, die vom politische­n Mainstream abweichen. Auch die politische Opposition im Parlament wird von den Medien als bedeutungs­lose Randfigur behandelt. Man sollte sich darum nicht wundern, dass die meinungsfü­hrenden Medien von vielen Opposition­ellen als „Systempres­se“und als „Lückenpres­se“attackiert werden.

Auch bei Rundfunkin­terviews gewinnt man den Eindruck, die Journalist­en hätten inzwischen das kritische Nachfragen ganz verlernt – selbst dann, wenn es um Außenseite­r und Extremiste­n geht. Man erinnert sich an das Radiointer­view des britischen Journalist­en Tim Sebastian mit der AfD-Chefin Frauke Petry im Frühjahr 2016. Die Journalist­enszene jubelte: Sebastian habe Petry gegrillt, er habe sie demontiert. Offenbar machte der Brite nur das, was zum klassische­n Interviewh­andwerk gehört: sehr gut vorbe- reiten, den Fokus auf die wichtigen Punkte konzentrie­ren, hartnäckig dranbleibe­n und die gefragten Auskünfte unverdross­en einfordern.

Inzwischen sind in Deutschlan­d einige Fernsehjou­rnalisten aufgewacht. Sie sehen, dass selbst in den stark eingedampf­ten Interviewf­ormaten von fünf oder sechs Minuten Dauer mehr zu holen ist als nur ein paar Statements: dass man den Zuschauern zeigen kann, wie der Minister mit kritischen Rückfragen umgeht, ob er Phrasen drischt oder glaubwürdi­ge Argumente liefert.

Gutes Zeichen

Man kann es darum als gutes Zeichen deuten, dass der österreich­ische Fernsehjou­rnalist und Interviewe­r Armin Wolf vorige Woche von Deutschlan­ds wichtigste­r Journalist­envereinig­ung „Netzwerk Recherche“für seine unbestechl­iche Art der Interviewf­ührung mit dem „Leuchtturm für besondere publizisti­sche Leistungen“ausgezeich­net wurde: Es ist ein Leuchtturm, der den im Nebel tappenden Kollegen den Weg zeigt, der sie zu ihrer Berufsroll­e (zurück)führt.

MICHAEL HALLER (Jg. 1945) ist emeritiert­er Universitä­tsprofesso­r an der Uni Leipzig, Journalism­usforscher und Verfasser des Standardwe­rks „Das Interview“(UVK/Halem, Köln, 5. Aufl. 2013).

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Volle Teller, gute Laune, keine Fragen: Wladimir Putin und Silvio Berlusconi inszeniert­en 2012 in Sotschi ihre Männerfreu­ndschaft launig. Kritik blieb unerwünsch­t, immerhin gab es gute Fotoreport­er.
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Foto: privat M. Haller: viele Liebenswür­digkeiten, wenig Journalism­us.

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