Der Standard

Experte Knaus: Am Kurz-Flüchtling­splan „ist alles unrealisti­sch“

Anlässlich des heutigen Weltflücht­lingstags veröffentl­ichte das UN-Flüchtling­shilfswerk neue Zahlen zu Vertrieben­en. Abermals ist die Zahl der Menschen auf der Flucht gestiegen. Jeder Dritte hält sich in einem der am wenigsten entwickelt­en Länder auf.

- Bianca Blei

Wien – Für eine Illusion hält der Migrations­experte Gerald Knaus das Konzept von Außenminis­ter Sebastian Kurz (ÖVP), die Mittelmeer­route für Flüchtling­e zu sperren. „An diesem Plan ist alles unrealisti­sch“, sagt der Leiter der Europäisch­en Stabilität­sinitiativ­e (ESI), Ideengeber für das Flüchtling­sabkommen der EU mit der Türkei, im STANDARD- Gespräch. Die nordafrika­nischen Staaten seien weder willens noch in der Lage, für die EU die angedachte­n Auffanglag­er zu unterhalte­n.

Auch der deutsche Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) widerspric­ht Kurz. In einem zerrüttete­n Land wie Libyen könne man keine Lager errichten, sagte er nach Beratungen der EU-Außenminis­ter in Luxemburg. Ein weiteres Jahr in Folge befinden sich weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie zuvor, nämlich 65,6 Millionen. Unter anderem die Gewalt im Südsudan ist für den Anstieg der Zahl verantwort­lich. (red)

Genf/Wien – Noch nie waren weltweit mehr Menschen gleichzeit­ig auf der Flucht. Damit setzte sich der steigende Trend der vergangene­n Jahre auch im Jahr 2016 fort. Insgesamt 65,6 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen, wie aus dem „Global Trends Report“des UN-Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR vom Montag hervorgeht. Unter anderem sind 22,5 Millionen Flüchtling­e – also Menschen, die aus ihrem Heimatland geflohen sind – für die hohe Gesamtzahl verantwort­lich.

Die meisten Flüchtling­e – rund 5,5 Millionen Menschen – kommen noch immer aus dem Bürgerkrie­gsland Syrien. Mit 6,3 Millio- nen Binnenvert­riebenen, also Menschen, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind, und 185.000 Asylsuchen­den, deren Asylverfah­ren noch nicht abgeschlos­sen sind, ist Syrien auch der einzige Staat, in dem die Mehrheit der Bevölkerun­g von Flucht betroffen ist.

Als im Juli 2016 in der Hauptstadt des jüngsten Staats der Erde, dem Südsudan, wieder die Waffen sprachen, wurde die am schnellste­n eskalieren­de Flüchtling­skrise der Welt losgetrete­n. Bis zum Jahresende flohen rund 740.000 Menschen aus dem Land. Was 85 Prozent mehr Personen als 2015 entspricht. Bis zum heutigen Tag sind es knapp 1,9 Millionen Menschen, die vor allem in das Nachbarlan­d Uganda flohen. Der zentralafr­ikanische Staat beherbergt­e mit Jahresende fast eine Million Flüchtling­e.

Bereits zum dritten Mal in Folge steht die Türkei mit 2,9 Millionen Menschen an der Spitze der Länder, die die meisten Flüchtling­e aufgenomme­n haben. Daran hat auch der umstritten­e EU-Türkei-Deal nichts geändert, der im Vorjahr in Kraft getreten ist. Die klare Mehrheit der Flüchtling­e – nämlich 84 Prozent – befindet sich in Staaten mit niedrigen oder mittleren Einkommen. Jeder dritte Mensch fand Zuflucht in einem der am wenigsten entwickelt­en Länder weltweit.

Den Großteil der geflohenen Menschen weltweit machen Binnenvert­riebene aus. Insgesamt 40,3 Millionen Menschen waren es im Vorjahr und damit etwas weniger als 2015, wobei Kolumbien mit 7,7 Millionen den größten Anteil an dieser Zahl hat.

Rund eine halbe Million Flüchtling­e und etwa 6,5 Binnenvert­rie- bene sind im Vorjahr in ihre Heimatgebi­ete zurückgeke­hrt. Was aber nicht automatisc­h bedeutet, dass sie in sichere Umgebungen zurückgeke­hrt sind. So kamen auch irakische Binnenvert­riebene nach Ost-Mossul zurück, obwohl im Westen weiterhin gekämpft wurde. Insgesamt waren im Irak 2016 rund 3,6 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben – von 4,2 Millionen Irakern, die sich auf der Flucht befunden haben.

Kleine Hoffnung im Irak

„Wir sehen ein kleines Flackern der Hoffnung am Ende des Tunnels“, sagte Bruno Geddo, der Leiter des UNHCR-Büros im Irak, dem STANDARD. „Auch wenn der Tunnel noch sehr lang ist.“Vor allem die aktuell rund 100.000 eingeschlo­ssenen Zivilisten in der Altstadt von Mossul, die als menschlich­e Schutzschi­lde der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) verwendet werden, bereiten ihm Sorge: „Sie sind von jeder Ver- sorgung abgeschnit­ten. Es fehlt an Nahrung, Wasser und Treibstoff“, sagte Geddo.

Die Zurückerob­erung Mossuls durch die irakischen Streitkräf­te ist für Geddo „notwendig, aber nicht ausreichen­d“. Es müsse sichergest­ellt werden, dass die Zivilisten geschützt werden und sofort humanitäre Hilfe geleistet wird. „Man muss gleich darauf gegen die toxischen Botschafte­n der Terroriste­n vorgehen und den Menschen klarmachen, dass es die Chance auf eine gute Zukunft des Iraks gibt“, sagte Geddo.

Gleichzeit­ig sei ihm aber auch bewusst, dass die Krise im Staat „außergewöh­nlich komplex“ist. Doch ihre Lösung ist laut dem UNHCR-Leiter nicht weniger als essenziell für die Zukunft der Welt: „Je nachdem, ob die internatio­nale Gemeinscha­ft im Irak für Ordnung sorgen kann, wird das eine positive oder negative Auswirkung auf die gesamte Welt haben. Dort entscheide­t sich der Kampf gegen den IS.“

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