Kopf des Tages
Der Wittgensteinpreis 2017 geht an den Quantenphysiker Hanns-Christoph Nägerl. Er nutzte seine Präsentation auch dafür, auf die Unterdotierung der Grundlagenforschung hinzuweisen.
Hanns-Christoph Nägerl, Quantenphysiker an der Universität Innsbruck, erhält den diesjährigen Wittgensteinpreis.
Wien – Es gibt Tage, die bieten eigentlich zu hundert Prozent Anlass zur Freude. Hanns-Christoph Nägerl, Quantenphysiker an der Uni Innsbruck, war am Montag auch recht begeistert angesichts des soeben zuerkannten Wittgensteinpreises 2017. Immerhin kann er mit dem Preisgeld in der Höhe von 1,5 Millionen in wissenschaftliches Personal investieren.
Nägerl vergaß trotz seiner Freude nicht, auf die kritische Finanzierungssituation der Grundlagenforschung in Österreich einzugehen. Der Wissenschaftsfonds FWF, der gemeinsam mit dem Wissenschaftsministerium den Wittgensteinpreis vergibt, sei deutlich unterdotiert. Zu viele hervorragende Projekte müssten aufgrund von fehlender Mittel abgelehnt werden. FWF-Präsident Klement Tockner und die kaufmännische Vizepräsidentin des Fonds, Artemis Vakianis, lieferten zuvor die Zahlen: 2016 wurden 183,8 Millionen Euro für 24 Projekte bewilligt.
Das ist wenig im Vergleich zu ähnlichen Wissenschaftsstandorten: In Österreich werden pro Einwohner und Jahr 24 Euro für die kompetitive Grundlagenforschung ausgegeben. Innovation Leader wie die Schweiz (97 Euro) oder die Niederlande (51 Euro) geben deutlich mehr aus.
Viel Geld wird in Österreich für die Standortförderung „For- schungsprämie“flüssiggemacht, ein Steuerzuckerl für F&E-intensive Unternehmen. Hier wurden die Mittel von 121 auf 552 Millionen Euro zwischen 2005 und 2016 vervielfacht. Das Budget des FWF stieg im gleichen Zeitraum von 122 Millionen auf 188 Millionen Euro, was angesichts der Teuerung eine Stagnation ist. In Summe ergibt das zwar mit 3,07 Prozent F&E-Quote einen Spitzenplatz bei Input-Rankings noch vor der Schweiz und den Niederlanden, in Output-Rankings bezüglich wissenschaftlicher Zitationen und Einwerbungen von Grants des Europäischen Forschungsrats ERC liegt man hinter diesen Vergleichsländern.
Nägerl sieht einen Grund für dieses Auseinanderklaffen von In- put und Output im Umgang mit Geldern. Konkret bemängelte er das Fehlen längst fälliger Infrastrukturprojekte. Während es für das seit mehr als einem Jahrzehnt geforderte Haus der Physik an der Uni Innsbruck immer noch keine fixe Zusage gebe, habe etwa die Uni Stuttgart mit einer vergleichbaren Anzahl von Physikern ein solches Gebäude errichtet. Geschätzter Wert: 200 Millionen Euro. „In Österreich wird gekleckert, nicht geklotzt“, sagt Nägerl. Der Wittgensteinpreisträger ist auch einer der Unterzeichner eines offenen Briefes von Wissenschaftern, die zwischen 1996 und heute den Start-Preis des FWF gewannen. Er ging an die Bundesregierung mit der Forderung nach der dringenden Umsetzung der „Universitätenfinanzierung neu“(1,35 Mrd Euro) und nach der bereits versprochenen „Forschungsmilliarde“. Der FWF glaubt trotz Koalitionsbruchs und Neuwahlen noch an die Umsetzung. Tockner: „Das wäre ein erster großer Schritt.“Von diesen Mitteln sollen insgesamt 281 Millionen Euro für die Jahre 2018 bis 2021 zusätzlich dem FWF zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise würde man das jährliche Budget des Fonds auf 290 Mio. Euro im Jahr 2021 anheben. Für Tockner ist das zwingend. Geschieht das nicht, sagt der FWF-Chef, hätte das einen Vertrauensverlust zur Folge, einen Schaden für Österreich als Innovationsstandort. „Das wäre unverantwortlich.“(pi)
Als Hanns-Christoph Nägerl vergangene Woche nach einem längeren Flug in Frankfurt die Sendefunktion seines Mobiltelefons aktivierte, überschlugen sich die eintrudelnden Nachrichten. „Extrem überrascht“habe den Quantenphysiker, zu erfahren, mit dem höchsten Wissenschaftspreis Österreichs, dem Wittgensteinpreis, ausgezeichnet zu werden.
Generell ist Nägerl jedenfalls jemand, der Überraschungen sucht, anstatt sie zu meiden – zumindest, wenn es um die Physik geht. „Neuland zu betreten, wo man nicht wissen kann, wohin das führen wird – das macht mir einfach Spaß“, sagt der Experimentalphysiker. Seine Entscheidung, an sogenannten ultrakalten Quantenvielteilchensystemen zu forschen, sei folglich auch dem Versuch geschuldet, einen Kompromiss zu finden zwischen Kontrolle, nämlich über die Quantenteilchen, und ausreichender Komplexität, um stets auf Überraschungen zu stoßen.
Ultrakalt meint in diesem Fall den Bereich von Milliardstel Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt, der bei zirka -273,15 Grad Celsius liegt. Derart stark abgekühlte Teilchen zeigen kollektive Effekte, die durch die klassische Physik nicht zu erklären sind – es bedarf der quantenphysikali- schen Beschreibung. Nägerl und sein Team nehmen Systeme mit vielen Teilchen ins Visier, daher sind die Abläufe zu komplex, um sie berechnen zu können; Experimente sind somit gefragt.
Den mit 1,5 Millionen Euro dotierten Wittgensteinpreis will Nägerl hauptsächlich in Personal investieren. Für ein weiteres Experiment fehle in Innsbruck derzeit schlicht der Platz.
Nägerl hat sich schon früh für Physik interessiert – vielleicht Zufall, wie er meint, oder aber familiär bedingt: Nicht nur sein Vater ist Physiker, sondern auch seine beiden Brüder. Er studierte zunächst Physik und Mathematik in Göttingen, wo er 1967 geboren wurde, und wechselte 1995 für sein Doktorat mit seinem Doktorvater Rainer Blatt nach Innsbruck, der damals an die dortige Uni berufen wurde. Nach zweijährigem Aufenthalt am California Institute of Technology (Caltech) kehrte Nägerl 2000 an die Uni Innsbruck zurück, wo er heute Professor ist. „In Innsbruck ist der Bär los, was die Quantenphysik angeht – wie an nur wenigen Orten weltweit“, schwärmt Nägerl.
Seine Freizeit verbringt der dreifache Vater vorzugsweise mit seiner Familie, auf dem Snowboard in den Tiroler Bergen oder Salsa tanzend mit seiner Frau.